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Zwischen Klischee und Realität: Wie TV-Formate das Bild von Bürgergeldempfängern verzerren

DMZ – MEDIEN ¦ Lena Wallner ¦           

KOMMENTAR

 

Während Studien aufzeigen, wie groß die Not vieler Bürgergeldempfänger:innen ist, zementieren TV-Sendungen und Boulevardformate ein anderes Bild: das des faulen, trinkenden, rauchenden Sozialschmarotzers. Eine gefährliche Verzerrung mit gesellschaftlichen Folgen.

 

Sie heißen Armes Deutschland, Hartz und herzlich oder RTLZWEI Spezial. In reißerischen Bildern werden Menschen im Sozialleistungsbezug vorgeführt: verwahrloste Wohnungen, Bierdosen auf dem Tisch, Zigaretten zwischen den Fingern – und vor allem: Desinteresse an Arbeit. Es ist ein Bild, das viele kennen – aber nur wenige hinterfragen. Denn mit der Realität der meisten Bürgergeldempfänger:innen haben diese Darstellungen wenig zu tun.

Fernsehreife Vorurteile

 

„Wer jeden Tag um zwölf aufsteht und dann erst mal einen Joint raucht, braucht sich über Armut nicht zu wundern“ – solche Kommentare sind in sozialen Medien unter entsprechenden Sendungsausschnitten häufig zu lesen. Dabei reproduzieren die Formate gezielt Stereotype, die längst widerlegt sind.

 

„Diese Produktionen zeigen eine extreme Minderheit – und stilisieren sie zum Prototyp aller Menschen im Leistungsbezug“, sagt die Medienwissenschaftlerin Dr. Jana Mehlhorn von der Universität Leipzig. „Das Ergebnis ist eine verzerrte Wirklichkeitswahrnehmung, die sich tief ins öffentliche Bewusstsein eingräbt.“

 

Tatsächlich zeigt eine aktuelle Umfrage von Sanktionsfrei in Zusammenarbeit mit dem Institut Verian, dass über 70 Prozent der Bürgergeldbeziehenden ihre Pflichten gegenüber dem Jobcenter einhalten. Mehr als die Hälfte der Eltern verzichtet regelmäßig auf eigene Mahlzeiten, um ihre Kinder zu versorgen. Viele kämpfen mit psychischen Belastungen, gesundheitlichen Einschränkungen oder fehlender Kinderbetreuung – nicht mit „Faulheit“.

 

Medienethik in der Krise 

Besonders problematisch: In den meisten dieser Sendungen werden Menschen nicht nur einseitig dargestellt, sondern bewusst in Szene gesetzt. Teilnehmende berichten von manipulativen Interviewfragen, gezieltem Schnittmaterial und einem Voyeurismus, der auf Quote statt Aufklärung zielt. Manche sprechen von medialer Ausbeutung.

 

Es wird zunehmend darauf hingewiesen, dass solche Darstellungen jeglicher journalistischer Verantwortung entbehren. Statt die sozialen Probleme verständlich zu machen, werde stattdessen herablassend auf Menschen geschaut, die ohnehin bereits am Rand der Gesellschaft stehen.

 

Auch der Pressekodex mahnt zur Sorgfalt bei der Darstellung sozialer Gruppen. Doch gerade bei privaten Unterhaltungssendern bleibt davon wenig übrig.

 

Politischer Zündstoff 

Die Folgen der medialen Verzerrung sind gravierend. In politischen Debatten wird immer wieder auf das Bild des „Sozialstaatsmissbrauchs“ rekurriert. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann forderte zuletzt „eine grundlegende Reform des Bürgergelds mit mehr Druck und Konsequenzen“. Dabei bleiben differenzierte Analysen, wie sie Umfragen oder Sozialberatungen liefern, außen vor.

 

„Wenn die öffentliche Meinung durch Fernsehformate beeinflusst wird, die ein zutiefst entmenschlichendes Bild zeichnen, dann wird soziale Realität zur Karikatur – und Politik zur Reaktion auf ein Zerrbild“, warnt die Soziologin Katharina Fenn, die zur Stigmatisierung von Armut forscht.

 

Ein Appell an die Medien 

Die Verantwortung der Medien ist klar: Information muss differenziert, respektvoll und faktenbasiert sein. Formate, die auf Kosten sozial Benachteiligter Einschaltquoten generieren, tragen zur Spaltung der Gesellschaft bei. Sie erschweren Empathie, fördern Vorurteile – und entlasten ein System, das reale Probleme lieber verdrängt als löst.

 

Nicht jeder Bürgergeldempfänger ist arm, weil er nicht arbeiten will. Viele sind arm, weil sie nicht arbeiten können. Wer das verschweigt, macht sich mitschuldig an einer Politik, die lieber über „Leistungsverweigerer“ schimpft, als echte Lösungen zu bieten.


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