
DMZ –INTERNATIONAL¦ Patricia Jungo
KOMMENTAR
Was ist Mut? Das Wörterbuch liefert eine formale Definition: die Fähigkeit, sich der Angst zu stellen, Risiken einzugehen, für etwas einzutreten, selbst wenn es unbequem oder gefährlich ist. Aber jeder, der je gezögert hat, die eigene Meinung zu sagen, obwohl das Herz raste – weiß: Mut lässt sich nicht in ein paar Zeilen erklären. Und: Mut ist nicht angeboren. Er wächst, manchmal schmerzhaft, mit jeder Entscheidung, die wir nicht ausweichen.
Mut beginnt im Kleinen
Mut zeigt sich nicht erst in heroischen Momenten. Es beginnt oft leise: im Aufstehen nach einem Rückschlag, im „Nein“ zu einer Gruppe, die man eigentlich beeindrucken wollte, oder im ehrlichen Gespräch mit einem Menschen, der einem wichtig ist. Die Psychologie spricht hier von einer „entwickelbaren Haltung“ – und das klingt erst einmal nüchtern. Aber hinter dieser Aussage steckt etwas Tröstliches: Mut lässt sich lernen.
Selbstwirksamkeit – der Boden, auf dem Mut wächst
Albert Bandura, kanadischer Psychologe, beschrieb die sogenannte Selbstwirksamkeit: das Gefühl, etwas aus eigener Kraft bewirken zu können. Wer einmal erlebt hat, dass ein mutiger Schritt – etwa ein Gespräch mit der Vorgesetzten oder das Bestehen auf einem fairen Umgang – eine Veränderung bewirkt, wird eher auch das nächste Mal mutig sein. Umgekehrt: Wer regelmäßig erfährt, dass Mut bestraft wird, zieht sich zurück.
Ich erinnere mich an eine Schülerin, die einmal in einem Workshop erzählte, dass sie die Einzige in ihrer Klasse war, die sich gegen Mobbing stellte – und prompt selbst ausgegrenzt wurde. Sie sprach davon nicht mit Bitterkeit, sondern mit Stolz. „Ich hab zwar verloren, aber ich war richtig“, sagte sie. Diese Haltung – das war Mut in Reinform.
Erziehung: fördern, nicht überfordern
Mut braucht Übung, und wie bei jeder Fähigkeit ist die frühe Kindheit ein entscheidender Trainingsraum. Wer als Kind hört „Trau dich“, „Probier’s ruhig“ – und wer dann bei Misserfolg nicht getadelt, sondern gestützt wird, entwickelt Vertrauen in sich. Die Resilienzforschung, etwa durch Emmy Werner, zeigt, wie bedeutend emotionale Sicherheit durch Bezugspersonen ist. Mut wächst nicht in Angst, sondern in Ermutigung.
Sechs Gesichter des Muts
Mut ist nicht gleich Mut. Es gibt ihn in vielen Ausprägungen – und jede hat ihre eigene Qualität.
Physischer Mut
Wenn ein Kind auf einen Baum klettert, obwohl der Ast wackelt, oder ein Mensch ins eiskalte Wasser springt – das ist physischer Mut. Er zeigt sich im Umgang mit körperlichen Herausforderungen. Klar, für manche ist das Alltag, für andere ein riesiger Schritt. Wichtig ist: Der Mut liegt nicht im Risiko selbst, sondern im Überwinden der eigenen Grenze.
Sozialer Mut
Sozialer Mut kann unbequem sein: eine Kollegin in Schutz nehmen, auch wenn die anderen tuscheln. Oder widersprechen, wenn jemand abwertend spricht – selbst wenn man danach selbst Zielscheibe wird. Lawrence Kohlbergs Stufenmodell moralischer Entwicklung hilft zu verstehen, warum nicht jeder dazu bereit ist – und warum es oft eine Frage der Reife ist.
Intellektueller Mut
Wer wagt, unbequeme Fragen zu stellen, etwa in einem Kreis, in dem alle nicken – der zeigt intellektuellen Mut. Besonders in Bildungskontexten ist das kostbar. Carol Dweck spricht in ihrer Forschung über das „growth mindset“, eine wachstumsorientierte Haltung, die Fehler als Chance sieht. Ohne diese Haltung verkümmert Neugier – und mit ihr auch der Mut zu denken.
Moralischer Mut
Ihn erkennt man oft erst im Rückblick. Menschen, die in autoritären Strukturen Widerstand leisten, die ethisch handeln trotz persönlicher Nachteile – sie zeigen moralischen Mut. Stanley Milgram hat mit seinen berühmten Experimenten eindrucksvoll vor Augen geführt, wie groß der Druck zur Gehorsamkeit sein kann. Ihm zu trotzen, ist keine Selbstverständlichkeit.
Emotionaler Mut
Gefühle zu zeigen – das klingt so selbstverständlich, ist es aber nicht. In einer Kultur, die Stärke oft mit Unberührbarkeit verwechselt, braucht es Mut, zu sagen: „Ich habe Angst.“ Oder: „Ich liebe dich.“ Die Emotionsforschung – etwa durch Paul Ekman oder James Gross – zeigt, dass dieser Mut entscheidend für seelische Gesundheit ist. Und doch bleibt er einer der am wenigsten gewürdigten.
Existenzieller Mut
Vielleicht der leiseste, aber tiefste Mut: mit der Endlichkeit zu leben. Der Psychiater Viktor Frankl, der Auschwitz überlebte, schrieb, dass es die Sinnsuche sei, die den Menschen am Leben halte – selbst in aussichtslosesten Situationen. Diesen Mut zum Leben trotz allem bewundere ich persönlich am meisten. Vielleicht, weil er uns alle früher oder später betrifft.
Mut ist kein Naturtalent, sondern ein Muskel
Mut entsteht durch Erfahrung, durch Erlaubnis zum Scheitern, durch liebevolle Begleitung – und manchmal auch durch Notwendigkeit. Er ist nie bequem, oft nicht einmal spektakulär. Aber Mut verändert etwas. In einem selbst. Und manchmal auch in der Welt.
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