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AT: 80-70-30: Wie das österreichische Parlament 1994 seine EU-Mitwirkungsrechte erhielt

DMZ –  POLITIK ¦ MM ¦ Lena Wallner ¦ 

 

Parlamentarische Verhandlungen über das EU-Begleit-BVG: Ein unerwarteter Konflikt statt vorweihnachtlicher Eintracht

 

Wien (PK) – Im November 1994 ebnete das österreichische Parlament mit der Genehmigung des EU-Beitrittsvertrags den Weg für den EU-Beitritt Österreichs zum 1. Januar 1995. Der Vertrag erhielt sowohl im Nationalrat als auch im Bundesrat die erforderliche Zweidrittelmehrheit. Bereits zuvor hatte sich die österreichische Bevölkerung in einer Volksabstimmung für den Beitritt ausgesprochen.

 

Noch stand jedoch eine entscheidende Parlamentsentscheidung aus: die Verankerung der Mitwirkungsrechte des Parlaments und der Bundesländer in EU-Angelegenheiten sowie weiterer begleitender Bestimmungen zum EU-Beitritt in der Bundesverfassung. Dies betraf unter anderem die Wahl der österreichischen Abgeordneten zum Europäischen Parlament. Die Zeit drängte, denn SPÖ und ÖVP hatten bei der Nationalratswahl im Oktober ihre Zweidrittelmehrheit verloren. Die Verhandlungen über das sogenannte EU-Begleit-BVG erwiesen sich als kompliziert und führten zu unerwarteten Konflikten.

 

Start der Verhandlungen im November 1994

Wie schon beim EU-Beitritt selbst (siehe Parlamentskorrespondenz Nr. 50/2025) gab es auch intensive parlamentarische Beratungen über die begleitenden Verfassungsbestimmungen. Grundlage war eine Regierungsvorlage, die das damalige Übergangskabinett unter Bundeskanzler Franz Vranitzky und Vizekanzler Erhard Busek am 16. November ins Parlament einbrachte. Zu diesem Zeitpunkt waren die Koalitionsverhandlungen zwischen SPÖ und ÖVP noch nicht abgeschlossen; erst am 29. November wurde die neue Regierung angelobt.

 

Der Verfassungsausschuss des Nationalrats behandelte das EU-Begleitverfassungsgesetz in drei Sitzungen und berücksichtigte dabei auch einen eigenen Gesetzentwurf der FPÖ. Expert:innen sowie Vertreter:innen der Bundesratsfraktionen wurden hinzugezogen. In letzter Minute gelang eine Einigung zwischen SPÖ, ÖVP, Grünen und Liberalem Forum auf einen gemeinsamen Abänderungsantrag. Am 14. Dezember wurde dieser im Ausschuss beschlossen und am 15. Dezember dem Nationalratsplenum zur Abstimmung vorgelegt. Der FPÖ-Antrag wurde als miterledigt betrachtet.

 

Gemeinsamer Abänderungsantrag: Mehr Mitspracherecht für das Parlament

Ein zentraler Punkt des Abänderungsantrags war die Umwandlung des Anhörungsrechts des Hauptausschusses des Nationalrats bei der Nominierung des österreichischen Mitglieds der EU-Kommission in ein echtes Mitwirkungsrecht. Die Regierung konnte fortan nur mit parlamentarischer Mehrheit eine:n Kandidat:in nach Brüssel entsenden. Zudem wurden die Berichtspflichten der Regierung gegenüber Nationalrat und Bundesrat präzisiert sowie die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie die justizielle Zusammenarbeit der EU-Staaten in das parlamentarische Mitwirkungsverfahren einbezogen. Ein Konsultationsmechanismus wurde festgelegt, falls Regierungsmitglieder auf EU-Ebene von parlamentarischen Vorgaben abweichen wollten.

 

FPÖ fordert Änderungen und verweigert Zustimmung

Ein weiterer Streitpunkt betraf die Rolle des Rechnungshofs. SPÖ, ÖVP, Grüne und Liberales Forum vereinbarten, die Rechnungshofkontrolle in begrenzter Form auf die Kammern zu erstrecken und die Funktion des Rechnungshof-Vizepräsidenten abzuschaffen. Dies stieß bei der FPÖ auf massiven Widerstand. Ihr Verfassungssprecher Ewald Stadler forderte die Rücknahme dieser Bestimmung als Bedingung für die Zustimmung seiner Fraktion. Obwohl er die Stärkung der Parlamentsrechte im Vergleich zur ursprünglichen Regierungsvorlage anerkannte, lehnte die FPÖ das EU-Begleit-BVG letztlich ab, insbesondere weil eine geplante Bundesstaatsreform nicht umgesetzt wurde.

 

Dezember 1994: Das EU-Begleit-BVG passiert Nationalrat und Bundesrat

Die anderen Parteien ließen sich von den FPÖ-Forderungen nicht beirren. SPÖ-Klubchef Peter Kostelka kritisierte Stadlers Positionswechsel und hob die sachliche Arbeit der vergangenen Wochen hervor. ÖVP-Klubobmann Andreas Khol lobte die erreichte Verfassungsnovelle als Meilenstein, der internationalen Standards entspreche. Die ÖVP warf der SPÖ jedoch vor, mit dem Gesetz auch in die Kompetenzen des Bundespräsidenten eingreifen zu wollen.

 

Johannes Voggenhuber (Grüne) bezeichnete die Einigung als "historischen Erfolg" und betonte, dass die Opposition maßgeblich zur Stärkung der Parlamentsrechte beigetragen habe. Heide Schmidt (Liberales Forum) unterstrich, dass erst der Druck von Grünen und Liberalen eine ausreichende parlamentarische Mitbestimmung sichergestellt habe.

 

Am 15. Dezember erhielt das EU-Begleit-BVG die erforderliche Zweidrittelmehrheit im Nationalrat mit den Stimmen von SPÖ, ÖVP, Grünen und Liberalem Forum. Am 20. Dezember folgte die Zustimmung des Bundesrats mit 45 Ja- zu 17 Nein-Stimmen.

Langfristige Auswirkungen: Starke parlamentarische Mitwirkung in EU-Angelegenheiten

 

Die Verfassungsnovelle regelte die Beteiligung von Nationalrat und Bundesrat an der EU-Gesetzgebung in den Artikeln 23e und 23f B-VG. Diese wurden in den Folgejahren mehrfach angepasst und durch weitere Artikel ergänzt, insbesondere nach Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon.

 

Ein Kernpunkt der Mitwirkung war das Recht des Nationalrats-Hauptausschusses, das zuständige Regierungsmitglied an eine bestimmte Verhandlungsposition auf EU-Ebene zu binden. Nur in Ausnahmefällen durfte ein:e Minister:in davon abweichen. Um dieses Recht effektiv auszuüben, wurde die Regierung verpflichtet, das Parlament umfassend über EU-Vorhaben zu informieren, woraus später die EU-Datenbank des Parlaments entstand.

 

Darüber hinaus erhielt das Parlament ein Mitspracherecht bei der Nominierung von österreichischen Vertreter:innen in wichtigen EU-Institutionen wie dem Europäischen Gerichtshof (EuGH), dem EU-Gericht erster Instanz, dem Europäischen Rechnungshof und der Europäischen Investitionsbank. Auch die Mitwirkungsrechte der Bundesländer wurden verfassungsrechtlich verankert.

 

Der Beschluss des EU-Begleit-BVG im Dezember 1994 war damit ein entscheidender Schritt für die parlamentarische Kontrolle der österreichischen EU-Politik – eine Errungenschaft, die bis heute Bestand hat.

 

 

Herausgeber / Quelle: Parlamentskorrespondenz Österreich ¦ 


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