AT: 75 Jahre Parlamentsstenografie: Tradition und Zukunft im Wandel der Technologie

Sitzung des Reichstags in der Winterreitschule in Wien im Juli 1848. Vor den Sitreihen die Stenografen (Copyright: Wien Museum/A. Seyß (Zeichner))
Sitzung des Reichstags in der Winterreitschule in Wien im Juli 1848. Vor den Sitreihen die Stenografen (Copyright: Wien Museum/A. Seyß (Zeichner))

DMZ –  POLITIK ¦ MM ¦ Lena Wallner ¦         Sitzung des Reichstags in der Winterreitschule in Wien im Juli 1848. Vor den Sitreihen die Stenografen (Copyright: Wien Museum/A. Seyß (Zeichner))     

Wien – Selbst im kürzlich wiedereröffneten Parlamentsgebäude nehmen sie nach wie vor eine zentrale Position im Plenarsaal ein, links und rechts vor dem Rednerpult: die Parlamentsstenografen und -stenografinnen – ausgestattet mit Block und Bleistift. Schon Theophil Hansen, der Architekt des Parlamentsgebäudes, legte Wert darauf, dass ihre sichtbare Anwesenheit im Saal verdeutlicht, dass die Geschehnisse in den Plenarsitzungen protokolliert und veröffentlicht werden. In diesem Jahr feiern die Parlamentsstenografinnen ihr 175-jähriges Bestehen.

 

Heutzutage wird im Sitzungssaal vor allem das festgehalten, was nicht auf den Aufnahmen zu hören ist: Zwischenrufe und ihre Urheber, Applaus, der Inhalt von hochgehaltenen Tafeln oder andere während der Debatten verwendete Gegenstände. Während ein:e Parlamentsstenograf:in noch im Nationalratssaal tätig ist, wird die Aufnahme bereits im Hintergrund transkribiert. Nach jeweils zehn Minuten übernimmt eine andere Stenografin oder ein anderer Stenograf im Sitzungssaal. Der sichtbare Teil der Arbeit ist damit erledigt. Erst danach beginnt der größere, verborgene Teil – die Ausarbeitung des Stenographischen Protokolls.

 

Etwa 16.000 Seiten werden jährlich von der Leiterin der Parlamentsstenografinnen, Bettina Brixa, und ihrem Team für die Öffentlichkeit erstellt. Doch welche Rolle spielen Stenographische Protokolle in Zeiten von audiovisuellen Medien und automatisierter Spracherkennung? Warum gibt es Parlamentsstenograf:innen nach 175 Jahren immer noch, während andere, ähnlich alte Berufe längst ausgestorben sind und die Stenografie sonst kaum noch Verwendung findet? "Obwohl der Prozess der Herstellung und Verbreitung der Stenographischen Protokolle durch technische Entwicklungen kleineren und größeren Änderungen unterlag, bleibt das Ziel dasselbe wie vor 175 Jahren: Öffentlichkeit und damit Teilhabemöglichkeit am demokratischen Prozess herzustellen. Unser digitales Aufzeichnungssystem kann zwar alles aufnehmen, was in der Nähe eines Mikrofons gesprochen wird, aber beispielsweise keine Zwischenrufe aus dem Plenum oder von der Regierungsbank", erklärt Bettina Brixa, die Leiterin der Parlamentsstenograf:innen.

 

Strukturierte Textdokumente stellen dabei eine wichtige Grundlage dar – im Kontext von Data Governance nicht nur hinsichtlich Barrierefreiheit, sondern auch für eine spätere Verwendung. Sie sind leicht durchsuchbar und weiterverarbeitbar, was nicht nur für die interessierte Öffentlichkeit, sondern insbesondere für Medien und Wissenschaft von Bedeutung ist.

 

Nächster Schritt: Sprecher:innenunabhängiges Spracherkennungssystem

Die Entwicklung der Stenografie ist eng mit der Geschichte des Parlamentarismus in Europa verknüpft. Das Stenografenbüro in Österreich wurde mit der Eröffnung des Reichstags im Jahr 1848 gegründet, dem ersten gewählten Parlament des Landes. Bereits zu Beginn der Revolution im Jahr 1848 wurde in der Zeitschrift "Der Humorist" am 23. März der Ruf nach Stenografen laut: "Stenographen herbei! [...] Die Reichsstände werden bald ihre Sitzungen eröffnen, das Wort muss im Fluss der Rede aufgenommen und für die Presse fixiert werden, die Stenographie ist ein Bedürfnis, eine Notwendigkeit der Zeit, des Lebens. [...] Stenographie ist die Eisenbahn, welche vom Munde auf’s Papier führt; sie ist ein integrierender Teil des politischen Lebens, das bei uns wach geworden ist."

 

Im Jahr 1848 war die Stenografie eine hochmoderne Errungenschaft. In den folgenden 175 Jahren gab es immer wieder technische Entwicklungen, die die Arbeit der Parlamentsstenograf:innen veränderten: von der Einführung der Schreibmaschine ab 1920 (Wegfall des Übertragens der Stenogramme in Kurrentschrift) über die Verwendung von Audioaufzeichnungen ab 1960 (als zusätzliches Hilfsmittel) und die Anschaffung von Kopierern 1968 (unbegrenzte Vervielfältigung) bis hin zum Umstieg auf Computer und Textverarbeitungsprogramme Mitte der 1990er-Jahre sowie die Entstehung des World Wide Web. Letzteres ermöglichte auch eine einfache Verbreitung der Protokolle – seit 1996 wird das Gesamtprotokoll, seit 2002 auch das Vorläufige Protokoll auf dem Webportal des Parlaments zur Verfügung gestellt, seit 2018 innerhalb eines Tages.

 

Durch die technischen Veränderungen sind Stenografiekenntnisse für die Arbeit als Parlamentsstenograf:in heute nicht mehr ausschlaggebend. Im Vordergrund steht das Redigieren der Reden, weshalb Stenograf:nnen vor allem Lektoratskompetenzen aufweisen müssen, so Bettina Brixa.

 

Der nächste Schritt ist die Implementierung eines sprecherinnenunabhängigen Spracherkennungssystems. Deshalb fand im November eine "Fachtagung Spracherkennung" im Parlament statt, an der auch andere deutschsprachige Parlamente und Landtage teilnahmen. "Entscheidend ist, dass solche neuen Systeme sinnvoll in bestehende Prozesse eingefügt werden, damit die Automatisierung von Arbeitsschritten auch tatsächlich einen Effizienzgewinn und keinen Mehraufwand bedeutet. Der Bedarf an interdisziplinärer und internationaler Vernetzung ist jedenfalls groß, da alle gerade vor ähnlichen Herausforderungen stehen", betont Bettina Brixa.

 

 

Herausgeber / Quelle: Parlamentskorrespondenz Österreich ¦ 

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