DMZ – BLICKWINKEL ¦ Ruedi Stricker ¦
Klar, es war übertrieben. Und genaugenommen war die Idee auch nicht von mir. Mit dem Automobil des Pfarrers im Vorderland herumzufahren, ist ein Blödsinn. Dazu noch ohne Führerschein und nachts bei dichtem Schneetreiben. Aus moralischer Sicht erschwerend kam die Tatsache hinzu, dass der Pfarrer von der ganzen Geschichte nichts wusste und seine Ahnungslosigkeit wohl mit ins Grab genommen hat.
Zu unserer Verteidigung hätten wir vorzubringen, dass es uns gar nicht allein ums Autofahren ging. Das Vorhaben diente in erster Linie Ernährungszwecken, und wenn schon eine Schuldige an den Pranger gestellt werden müsste, wäre es Frau Holle, die an jenem Abend im Akkord schuftete. Auf den Strassen lag fast ein halber Meter Schnee, und zu Fuss hätten wir zwei Stunden gebraucht. Man stelle sich die Schlagzeile vor: «Hungernde Halbwüchsige im Schneesturm erfroren».
In der Planungsbesprechung hatten wir uns rasch auf den St. Anton als Ziel geeinigt. Der Gipfel liegt auf 1110 Meter über Meer und bietet neben seiner Nähe zum Schöpfer eine überwältigende Aussicht. Aber vor Allem stand dort oben ein Restaurant, in dem die mit unserer Erziehung Betrauten regelmässig speisten und Bewegung in den Weinkeller brachten. Gerne nahmen wir die Herausforderung an, es trotz logistischer und finanzieller Hürden unseren Vorbildern gleichzutun und einen weiteren Schritt in Richtung Eigenverantwortlichkeit zu unternehmen. Gab es eine bessere Gelegenheit als diesen verschneiten Mittwoch, an dem sonst keine Sau auf diesen verlassenen Berg fahren würde, um einen deprimierten Koch zu beschäftigen?
Auch die Zuordnung der Verantwortung ging rasch vonstatten. Als Fahrer bot sich Kurt an. Als zukünftiger Automechaniker und Vertrauter des katholischen Dorfgeistlichen hatte er nicht nur Zugang zu den Autoschlüsseln, sondern verfügte schon über mehrere Kilometer Fahrpraxis, die meisten davon zwischenfallslos. Der Zweite im Bunde war der Sohn von Beck Schmied, bei dem es damals die besten Nussgipfel gab.
Auf der hinteren Sitzbank des hellblauen VW Käfers sass neben mir noch Tobler, der stets mit dem scharfen Sackmesser seines Onkels geflunkert hat. Dass man damit einen eisernen Gartenhag wie einen Landjäger zerschneiden kann, haben wir leider nie erlebt, da dieser Onkel immer genau dann auftauchte, wenn wir im Tessin am Zelten waren. Aber das ist eine andere Geschichte.
Nach der Planung schritten wir zur Tat. Kurt organisierte im Pfarrhaus den VW, und wir fuhren auf den St. Anton, wo es Koteletts und Burgunder und Dessert und Kafi Lutz gab. Woher die fast achtzig Franken für die Finanzierung des Ganzen kamen, lässt sich heute nicht mehr eruieren, aber ich vermute, sie waren legal beschafft worden. Bei der Rückfahrt mussten wir, also Kurt, mit einigen brenzligen Situationen fertig werden. Die Gravitationskräfte und der heftige Schneefall standen nicht auf unserer Seite, und wir waren heilfroh, als wir heil in Heiden ankamen.
Dass wir mit unserem waghalsigen Projekt den guten Ruf des katholischen Klerus in Mitleidenschaft gezogen haben, tut mir und zweifellos auch meinen Mittätern leid. Das bereits am anderen Morgen entstandene Gerücht, der Pfarrer sei mitten in der Nacht schlingernd durch das Dorf gefahren, war jedenfalls nicht gänzlich aus der Luft gegriffen. Durch meine innige Fürbitte für den Herrn Pfarrer und diesen Aufsatz hoffe ich, endlich mit ihm und dem Schöpfer quitt zu sein.
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