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Ein Denkanstoß zu den „Bauernprotesten“ aus einer anderen Perspektive

DMZ –  POLITIK ¦ Dirk Specht ¦              

KOMMENTAR

 

Ich erlaube mir meine paar Cent zu den Bauernprotesten, die ich aus einer lange nicht mehr aktualisierten, aber sehr wahrscheinlich immer noch strukturell zutreffenden Analyse des Agrarsektors äußere. Wenn mir hier jemand darlegen kann, dass meine Aussagen veraltet sind, weil ich ganz große Strukturreformen der letzten zehn Jahre übersehen habe, danke ich für Widerspruch.

 

Meine Perspektive ist eine ökonomisch/ordnungspolitische mit etwas Gesellschaftskritik, die ich mir manchmal erlaube und ich will ausdrücklich mal von der Nabelschau, die uns momentan in den Medien dominiert, auf eine andere Ebene kommen.

 

Der Agrarsektor ist nämlich das größte Spielfeld der EU, weil die Nationalstaaten hier als erstes bereit waren, so etwas wie „Macht“ nach Brüssel abzugeben. Danach ist außer dem Euro strukturell nicht mehr viel passiert. Das Ergebnis ist eine überwiegend durch die EU dominierte, nationalstaatlich nur gering gestaltete Politik. Dabei wurde mehr oder weniger beabsichtigt eine Art „Industriepolitik“ etabliert, die vor allem zu sehr großen Agrarbetrieben führt. Ferner ist ein System aus massiven Subventionen, enger und kleinteiliger Regulierung sowie zu anderen Regionen ein ausgesprochen enger Protektionismus entstanden. Nebenbei bemerkt fällt der EU der Agrarsektor seit Jahrzehnten regelmäßig auf die Füße, wenn Freihandelsabkommen verhandelt werden sollen, weil die EU sich in dem Sektor von so etwas wie Freihandel intern wie extern praktisch komplett verabschiedet hat.

 

Für die in dem Sektor tätigen, die ich in Summe keineswegs als „Bauern“ bezeichnen würde, sind die Konsequenzen wohl nicht geringer als in anderen hoch regulierten Sektoren wie Finanzen, Gesundheit etc. Im Agrarsektor sind ökonomisch gut funktionierend nur größere Betriebe und Strukturen, bis zu Agrarkonzernen und die dort tätigen sind viel mehr Unternehmer und Manager als Bauern. Dieser sowohl ökonomisch als auch machtpolitisch bestens aufgestellte und alles dominierende Bereich ist das eine. Hier reden wir von großen Strukturen, die sehr eng mit den Industrien der Agrar- und Lebensmittelchemie und der Lebensmittelindustrie vernetzt sind. Man ist groß, man hilft sich, man hat gemeinsame Interessen, man hat Mechanismen, die Konflikte zu handhaben, vor allem: Man hat gemeinsam enormen politischen Einfluss. Nebenbei: Da sind auch einige Großunternehmer, die inzwischen kräftig bei der Nutzung von Flächen für Windkraft und PV mitmischen, mit nicht ganz unerheblichen ökonomischen Vorteilen, die in dem Fall zulasten der Stromkunden gehen.

 

Niemand muss diese dominierenden Strukturen bedauern, niemand muss sich um deren Ein- und Auskommen Sorgen machen. Die haben sich bestens in diesem EU-System eingenistet und politisch will sich mit denen wirklich niemand so richtig anlegen.

 

Das aber, also dieses Anlegen, womit eine Strukturreform des EU-Agrarsektors zwingend verbunden wäre, das ist nirgendwo in Sicht. Dieses Geflecht ist viel zu eng geworden und mit dem „Zoff“ über den Agrardiesel sehen wir vermutlich nicht mal ein paar Eiskörnchen von der Spitze des Eisbergs.

 

Dazu gehört auch: Je kleiner der Betrieb wird, desto mehr ist er Fähnchen der Strukturen und der Regulierung, steckt in einem „Sandwich“ zwischen eigenen Großstrukturen und Lebensmittelindustrie einerseits sowie der Regulierungswellen andererseits, desto weniger eigenen Einfluss hat er, desto größter sind Abhängigkeiten, die man insbesondere als Selbständiger nicht will. Das heißt: Da gibt es seit Jahrzehnten Frust, Ärger und Wut – vollkommen zurecht. Ein Pulverfass. Und die großen der Branche wissen das, sie wissen auch, wie man damit zündelt.

 

Für die Verbraucher in der EU sind die Effekte wie bei fast allen großen Subventions- und Regulierungssystemen: Von dem vielen Geld kommt auch etwas an. Lebensmittel sind in der EU vergleichsweise billig, dank dieser Subventionen. Die Gewinne von Großunternehmen in der gesamten Wertschöpfungskette, also von großen Agrarunternehmen über deren Zulieferer aus der Chemie bis zu den Lebensmittelkonzernen und übrigens entgegen der Selbstdarstellung auch beim Handel sind aber auch sehr groß. Der Verbraucher sieht die relativ günstigen Preise auf seiner Rechnung, der Steuerzahler sieht die Subventionen kaum noch. Die verschwinden in einem Geflecht aus nationalen und EU-Haushalten. Eine transparente Gesamtrechnung existiert nicht, ich hatte vor ca. zehn Jahren mal Studien gewälzt, um eine zu finden und es dann dabei belassen, die Strukturen zu verstehen. Anbei zur Sicht auf die Spitze der Spitze des Eisbergs exemplarisch eine Veröffentlichung der EU aus dem Jahre 2021, die Daten des Jahres 2019 zusammenfasst. Ob richtig oder falsch, ob vollständig der teilweise, keine Ahnung und ansonsten kein weiterer Kommentar!

 

Was nun den „Agrardiesel“ betrifft, der übrigens ausnahmsweise nicht EU-Agrar-, sondern Energiepolitik betrifft und daher ausgerechnet national so unterschiedlich ausfällt, so komme ich zu dem Ergebnis, dass zu keiner Zeit jemand begründen konnte, der sei „angemessen“. Das Gegenteil ist ebenso unmöglich. Niemand kann begründen, das sei „unfair“. Daher lässt sich eine Verlängerung sachlich nicht begründen und eine Kürzung auch nicht. Wir erleben aus meiner Sicht mal wieder eine Debatte mit Sachargumenten, die diesen Begriff nicht zulassen. In diesem über Jahrzehnte angewachsenen strukturellen Sumpf kann man keine einzelne Maßnahme mehr bewerten. Oft weiß man nicht mal, was die wirklich kostet und ihre tatsächliche Wirkung ist gewiss nicht mehr zu beurteilen. Nutzen und Lasten dieses Systems sind insgesamt und für jede einzelne Regelung: Komplett unbekannt!

 

Ich verstehe bestens, dass genau so eine sachlich nicht mehr bewertbare Sache letztlich in einem emotionalen Meinungstaumel enden muss. Wie immer sind dabei Nutzen und Lasten aber recht schnell klar. Der Nutzen liegt bei Strippenziehern, dominierenden Netzwerken und sobald so etwas zur öffentlichen Thematik wird natürlich den politischen Trittbrettfahrern. Die Lasten trägt unser gesellschaftlicher Konsens und wenn das so weiter geht unsere Demokratie insgesamt.

 

In diesem Sinne kann ich mich nur schütteln, was da passiert. Wenn eine Regierung so etwas beschließt, muss sie sich das sehr gut überlegen und auch einen Plan haben, wie sie das durchsetzt. Sonst schadet sie nicht nur sich selbst, sondern der Institution, die sie gerade vertritt. Davon kann hier keine Rede sein, denn der Beschluss war kaum draußen, da gab es die ersten öffentlichen Rückzugsmanöver und sehr bald bekanntlich eine erste „Korrektur“. Es ist vollkommen klar, dass das den Protest nicht beilegt, sondern befördert. Wenn diese Regierung das so fortsetzt, werden wir bald alle etwas komplexeren Maßnahmen auf der Straße verhandeln. Das kann wirklich niemand aus einem restdemokratischen Spektrum wollen – Bürgerinnen und Bürger nicht, Politik nicht. Egal, wie die eigenen Interessen berührt sind oder auch nicht.

 

Was die protestierenden Bauern betrifft, so wiederhole ich mein Verständnis für Frust und Ärger, weise aber auf die Strukturen hin. Es ist ein so wichtiges Beispiel, denn es gibt in unserer Gesellschaft sehr viel Frust, Wut, Enttäuschung über alles mögliche, manchmal nachvollziehbar, manchmal nicht, in jedem Fall letztlich eine individuelle Sache, die insofern immer ihre Berechtigung hat. Aber: Was man mit diesem Frust macht und wessen Lied man singt, sollte man sich umso klarer machen, das ist schlicht die gesellschaftliche und demokratische Kernverantwortung von jedem und kein Frust legitimiert es, diese aus dem Fenster zu werfen.

 

Was den Bauernverband und weitere führende Leute aus dieser „Szene“ betrifft, so hat er sich verbal klar von der ganz offensichtlich erfolgenden Trittbrettfahrerei durch AfD&Co distanziert. Das ist richtig so. Aber das reicht nicht. Wer so etwas los tritt, trägt auch die Verantwortung für ALLE Folgen, die es hat. Wir werden sehen, was morgen passiert, aber eines muss heute bereits gesagt werden: JEDER, der sich an den Protesten beteiligt, von den Strukturen im Hintergrund bis zu jedem einzelnen, der das aktiv unterstützt, trägt eine ganz besondere Verantwortung für nichts geringeres als unsere Gesamtgesellschaft und unsere Demokratie!

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