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CH: 18 Femizide in sechs Monaten – und noch immer keine entschlossene Antwort

DMZ – POLITIK ¦ MM ¦ AA ¦ 

 

Die Schweiz reagiert erneut spät auf eine eskalierende Gewaltspirale. Die jetzt beschlossenen Massnahmen gegen Femizide bleiben hinter dem Notwendigen zurück – und könnten vor allem Symbolpolitik sein.

 

Bern – Es ist eine Zahl, die sprachlos macht: 18 Frauen und Mädchen wurden allein im ersten Halbjahr 2025 in der Schweiz von Männern getötet – in den meisten Fällen durch (Ex-)Partner oder enge Angehörige. Diese sogenannte geschlechtsspezifische Gewalt ist kein Randphänomen, sie ist tödliche Realität in einem Land, das sich als fortschrittlich versteht. Und doch reagiert die Politik erneut zögerlich und halbherzig.

 

Am Donnerstag präsentierte der Ausschuss zur Umsetzung der Istanbul-Konvention – koordiniert durch das Eidgenössische Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG) – drei „dringliche Massnahmen“, mit denen Bund, Kantone und Gemeinden auf die alarmierende Häufung von Femiziden reagieren wollen. Sie umfassen den Ausbau von Schutzplätzen, verstärkte Prävention in Trennungsphasen und eine systematische Analyse der bisherigen Fälle. Ein Schritt – ja. Aber ein kleiner Schritt, wo ein beherzter Sprung nötig wäre.

 

Wenn das System zu spät kommt 

Opferschutzorganisationen und feministische Initiativen fordern seit Jahren ein koordiniertes, verpflichtendes Vorgehen gegen geschlechtsspezifische Gewalt. Der Mangel an Schutzplätzen ist seit Langem bekannt, ebenso wie die gefährliche Eskalationsgefahr in Trennungsphasen. Auch Täterarbeit, Bedrohungsmanagement und Früherkennung werden regelmässig als Baustellen genannt. Warum also geschieht so wenig – und warum immer erst, wenn es Tote gibt?

 

„Die Massnahmen des Bundes sind notwendig, aber sie kommen spät – und sie sind nicht ausreichend“, sagt eine Fachfrau aus der Opferhilfe, die anonym bleiben will. „Wir brauchen nicht nur mehr Plätze in Frauenhäusern, sondern eine verpflichtende nationale Strategie mit verbindlichen Ressourcen, Standards und Kontrollmechanismen.“

 

Prävention beginnt nicht nach der Tat 

Eine systematische Analyse von Femizidfällen ist wichtig – doch sie ist reaktiv, keine Prävention. Dass Frauen während und nach Trennungen besonders gefährdet sind, ist keine neue Erkenntnis. Dennoch gibt es kaum standardisierte Verfahren, um Risikofaktoren rechtzeitig zu erkennen und Schutz zu gewährleisten. Polizeiliche Gefährdungsanalysen, elektronische Überwachung, verpflichtende Täterprogramme: All das wäre längst umsetzbar – wenn der politische Wille da wäre.

 

Auch der Gesetzgeber zögert: Eine Überarbeitung des Opferhilfegesetzes (OHG) ist erst für Herbst angekündigt – dabei könnte sie Leben retten. Der Rechtsstaat reagiert, wo er agieren müsste.

 

Femizid ist kein Zufall – sondern strukturelle Gewalt 

Die Schweiz hat 2018 die Istanbul-Konvention ratifiziert – ein völkerrechtlich verbindlicher Vertrag zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen. Seither wurde ein Aktionsplan verabschiedet, eine Roadmap erstellt, eine Sensibilisierungskampagne angekündigt. Doch Papier allein schützt keine Leben. Und ein Aktionsplan ohne gesetzliche Verbindlichkeit ist wenig mehr als eine Absichtserklärung.

 

Hinzu kommt: Der Begriff Femizid ist in der Schweiz nicht juristisch anerkannt. Das macht es schwierig, die Dimension geschlechtsspezifischer Gewalt sichtbar zu machen und gezielt zu bekämpfen. Dabei ist längst klar: Diese Gewalt ist kein Einzelfall, sondern Ausdruck eines gesellschaftlichen Machtverhältnisses, das Frauen strukturell benachteiligt – im Privaten wie im Öffentlichen.

 

Was jetzt zu tun wäre 

Was es braucht, ist nicht weniger als ein klares politisches Bekenntnis zur Nulltoleranz gegenüber Gewalt an Frauen – und konkrete, durchsetzbare Massnahmen:

  • Ein nationales Bedrohungsmanagement nach internationalen Standards
  • Verbindliche Mindeststandards für Schutzunterkünfte und Fachpersonal in allen Kantonen
  • Frühwarnsysteme für gefährdete Frauen, verpflichtende Täterarbeit und elektronische Überwachung
  • Eine flächendeckende Prävention, beginnend in Schulen
  • Eine juristische Anerkennung von Femiziden als solche

 

Solange diese Punkte nicht entschlossen angegangen werden, bleibt der Eindruck bestehen, dass der Staat tödliche Gewalt an Frauen in Kauf nimmt – solange sie sich im Privaten abspielt.

 

Ein Aufschrei – aber kein Umbruch 

Die 18 getöteten Frauen im ersten Halbjahr 2025 stehen für eine erschütternde Realität. Die neuerlichen Ankündigungen mögen aufrichtig gemeint sein – aber sie reichen nicht aus. Wer Femizide wirklich stoppen will, muss mehr tun als nachträglich analysieren und punktuell reagieren. Er muss bereit sein, das System zu verändern, in dem diese Gewalt möglich wird.

 

Der nächste Femizid kommt – es sei denn, der Staat kommt ihm zuvor.

 

 

Quellen:

  • Eidgenössisches Büro für die Gleichstellung von Frau und Mann (EBG), Medienmitteilung vom 26.06.2025
  • Istanbul-Konvention, Europarat, 2011
  • Nationale Aktionspläne und Roadmap gegen häusliche und geschlechtsspezifische Gewalt, Schweiz

Herausgeber

admin.ch


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