
DMZ – JUSTIZ ¦ Sarah Koller ¦
Was ist dran an der Warnung vor „mafiösen Netzwerken“? Eine Einordnung.
Berlin – Bundesarbeitsministerin Bärbel Bas (SPD) hat mit ihrer jüngsten Wortwahl eine Debatte angestoßen. In einem Interview sprach sie von „mafiösen Strukturen“ im Zusammenhang mit Bürgergeldmissbrauch – insbesondere durch EU-Bürger:innen, die mit Scheinbeschäftigungen Zugang zu Sozialleistungen erhielten. Die Äußerung sorgte für Kritik: Sie sei überzogen, pauschalisierend und könne stigmatisierend wirken. Was aber ist sachlich dran an diesen Aussagen?
Regionale Einzelfälle statt flächendeckendes Phänomen
Tatsächlich bezieht sich Bas in ihrer Einschätzung auf spezifische Fälle im Ruhrgebiet. Eine Sprecherin der Bundesregierung bestätigte auf Nachfrage, dass es sich um lokal begrenzte Erscheinungen handle – etwa in Stadtteilen mit hoher Wohnverfügbarkeit und auffälliger Zahl an Anmeldungen mit zweifelhaften Arbeitsverhältnissen. Ein flächendeckendes, bundesweites Problem sei nicht erkennbar.
Bürgergeldbetrug: Zahlen und Sanktionen
Laut Daten der Bundesagentur für Arbeit wurden im Jahr 2022 rund 82 269 Hinweise auf möglichen Missbrauch von Bürgergeld (vormals Arbeitslosengeld II) registriert – hauptsächlich wegen nicht gemeldeter Einkünfte oder falscher Angaben zur Bedürftigkeit.
Davon führten 17 892 Fälle zu Sanktionen, 4 192 endeten mit Geldstrafen, 93 mit Haftstrafen. Der geschätzte Gesamtschaden belief sich 2022 auf etwa 272 Millionen Euro. Diese Summe relativiert sich jedoch im Vergleich zu anderen Wirtschaftsdelikten erheblich.
Steuerhinterziehung: Milliardenschäden – bei geringerer Strafverfolgung
Der Bundesrechnungshof beziffert die jährlich aufgedeckten Schäden durch Steuerdelikte auf mehrere Milliarden Euro. Im Jahr 2023 wurden allein 2,5 Milliarden Euro sichergestellt. Fachleute gehen von einem tatsächlichen Gesamtschaden im zweistelligen Milliardenbereich aus – insbesondere durch Steuerhinterziehung, Schwarzarbeit und legale Steuervermeidung. Studien sprechen sogar von bis zu 125 Milliarden Euro jährlich.
Strafverfolgung bleibt in diesem Bereich oft lückenhaft: Steuerstrafrecht gilt als komplex und ist personell unterbesetzt. Die Staatsanwältin und Steuerexpertin Anne Brorhilker kritisiert regelmäßig die geringe Priorisierung von Wirtschaftskriminalität.
Populistische Zuspitzung? Kritik an der Rhetorik
Sozialverbände wie die Diakonie Deutschland warnen vor einer Überdramatisierung einzelner Betrugsfälle. Der Begriff „mafiös“ sei problematisch, weil er – ohne empirische Grundlage – ein Bild krimineller Großorganisationen zeichne und damit den Verdacht auf pauschale Kriminalisierung lenke.
Kritiker:innen aus Wissenschaft und Praxis fordern eine Verhältnismäßigkeit in der Debatte: Bürgergeldmissbrauch existiere – wie bei jedem System – doch im Verhältnis zur Gesamtsumme der ausgezahlten Leistungen und zur Schadenshöhe anderer Deliktsgruppen sei er vergleichsweise gering.
Differenzierung statt Dramatisierung
Organisierter Sozialleistungsmissbrauch kann regional auftreten – insbesondere dort, wo Kontrollen lückenhaft und Anmeldestrukturen ausnutzbar sind. Doch von „mafiösen Strukturen“ in einem relevanten, bundesweiten Ausmaß zu sprechen, ist bislang nicht durch Daten gedeckt.
Der Schaden durch Bürgergeldbetrug ist real – aber im Vergleich zu anderen Finanzdelikten wie Steuerhinterziehung relativ gering. Eine differenzierte und sachlich fundierte Debatte ist notwendig: Einerseits muss Missbrauch konsequent verfolgt werden, andererseits darf die Würde Bedürftiger nicht durch pauschale Verdächtigungen verletzt werden.
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