
DMZ – GESELLSCHAFT ¦ Sarah Koller
Immobilien, Erbschaften, Vermögen – der gesellschaftliche Drang, Besitz anzuhäufen, gilt vielen als Garant für Sicherheit und Wohlstand. Doch eine genauere Betrachtung zeigt: Für viele Menschen lohnt sich dieser Weg weder finanziell noch emotional. Besonders im Alter wird Besitz zur Belastung – für die Eigentümer ebenso wie für die Erben.
Für viele Menschen ist es ein Lebensziel: die eigene Wohnung, das Haus im Grünen, ein Stück Land, vielleicht ein kleines Vermögen. Besitz steht in unserer Kultur für Erfolg, Stabilität und Unabhängigkeit. Doch hält diese Vorstellung einer kritischen Überprüfung stand? Studien, Statistiken und Erfahrungsberichte zeichnen ein anderes Bild – eines, in dem Besitz seine vermeintlichen Vorteile zunehmend verliert.
Altersarmut trotz Eigentum
Der demografische Wandel macht es sichtbar: Viele ältere Menschen besitzen Immobilien, leben jedoch in prekären finanziellen Verhältnissen. Laut Zahlen des Statistischen Bundesamts (2023) lebt knapp ein Fünftel der über 65-Jährigen mit einem monatlichen Nettoeinkommen unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle. Ein Eigenheim schützt in solchen Fällen kaum – denn es verursacht laufende Kosten, braucht Instandhaltung, ist oft nicht barrierefrei und lässt sich im Alter nicht ohne Weiteres verwerten.
Eine 2022 veröffentlichte Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) belegt: Immobilienbesitz schützt nicht zwangsläufig vor Altersarmut – insbesondere dann nicht, wenn Hypotheken, steigende Energiepreise oder Renovierungskosten die ohnehin knappe Rente belasten.
Erben – ein unterschätztes Risiko
Auch der Gedanke, mit Eigentum den Kindern „etwas hinterlassen zu können“, erfüllt sich in der Praxis nur bedingt. Erbschaften sind in vielen Fällen konfliktbeladen. Unklare Testamente, ungleiche Verteilung oder emotionale Erwartungen führen nicht selten zu Familienstreitigkeiten oder langwierigen Gerichtsverfahren.
Zudem ist nicht jeder Besitz ein Gewinn. In Regionen mit sinkenden Immobilienwerten oder hoher Erbschaftssteuer kann das geerbte Haus zur Last werden – insbesondere dann, wenn Renovierungsstau, Altlasten oder Restschulden bestehen.
Psychologische Last statt Freiheit
Der Soziologe Hartmut Rosa spricht von „Resonanzverhältnissen“ zwischen Mensch und Welt – Besitz schaffe zwar Kontrolle, nicht aber Resonanz. Tatsächlich berichten viele Eigentümer, insbesondere im fortgeschrittenen Alter, von einer zunehmenden Belastung durch Haus, Grundstück oder Vermögen: Verwaltungsaufwand, Sorge um den Wert, emotionale Bindung an Objekte, die längst nicht mehr zum Lebensstil passen.
„Wir dachten, das Haus sei unsere Absicherung“, sagt etwa eine 74-jährige Witwe aus Niedersachsen. „Aber es hält mich nur noch davon ab, mich zu verkleinern, flexibel zu sein – oder mir Hilfe zu suchen.“
Gesellschaftliche Schieflagen
Auch gesamtgesellschaftlich betrachtet, birgt das Streben nach Besitz Risiken. Eigentum ist in Deutschland stark ungleich verteilt. Das reichste Prozent der Bevölkerung besitzt laut Daten des DIW mehr als ein Drittel des Nettovermögens. Die Mehrheit bleibt zurück – oft mit wachsender Frustration. Der Traum vom Eigentum, so die Kritik, fördert soziale Ungleichheit und zementiert strukturelle Benachteiligung.
Hinzu kommt: Der Fokus auf individuellen Besitz lenkt von kollektiven Lösungen ab – etwa vom Ausbau gemeinnützigen Wohnraums, alternativen Wohnformen oder solidarischen Wirtschaftssystemen.
Alternativen zum Eigentumsdenken
In urbanen Zentren wächst seit Jahren das Interesse an neuen Wohn- und Lebensmodellen: Genossenschaftliches Wohnen, Mietshäuser-Syndikate oder „Tiny-House“-Siedlungen setzen bewusst auf gemeinschaftliches Eigentum oder temporäre Nutzung statt individueller Anhäufung.
Auch das „Schenken zu Lebzeiten“ – etwa durch Übertragung von Vermögen oder Hausanteilen an Kinder in Verbindung mit Mitnutzung – gewinnt an Popularität. Es schafft Klarheit, entlastet Familien und erlaubt flexible Lösungen, etwa im Pflegefall.
Der Besitz von Eigentum kann sinnvoll sein – als bewusst getroffene, individuell passende Entscheidung. Als pauschales Lebensziel aber verliert er zunehmend an Tragfähigkeit. In einer Welt, die sich schnell verändert, in der Mobilität, Klimawandel, wirtschaftliche Unsicherheiten und soziale Spannungen zunehmen, ist flexibles Denken gefragt – nicht starres Festhalten.
Vielleicht ist es an der Zeit, Besitz neu zu denken: Nicht als das, was man anhäuft, sondern als das, was einem wirklich dient – und anderen nicht schadet.
Quellen:
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