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Zwischen Leben und Tod: Forscher entdecken dritten biologischen Zustand

Wissenschaftler erforschen ein rätselhaftes biologisches Phänomen namens „dritter Zustand“, bei dem Zellen eines verstorbenen Organismus nach dem Tod neue Funktionen übernehmen können. (NIAID-RML via AP, Archiv)
Wissenschaftler erforschen ein rätselhaftes biologisches Phänomen namens „dritter Zustand“, bei dem Zellen eines verstorbenen Organismus nach dem Tod neue Funktionen übernehmen können. (NIAID-RML via AP, Archiv)

DMZ – FORSCHUNG ¦ Sarah Koller ¦ Wissenschaftler erforschen ein rätselhaftes biologisches Phänomen namens „dritter Zustand“, bei dem Zellen eines verstorbenen Organismus nach dem Tod neue Funktionen übernehmen können. (NIAID-RML via AP, Archiv) 

 

Zellen entfalten nach dem Tod ihres Organismus überraschende Fähigkeiten – mit potenziellen Folgen für Medizin, Biotechnologie und unser Verständnis von Leben.

 

Was passiert nach dem Tod eines Organismus? Bisher galt: Der biologische Verfall beginnt, und mit ihm endet auch die Funktionsfähigkeit aller Zellen. Doch neue Forschungsergebnisse stellen diese Annahme infrage. Ein Forscherteam um den Molekularbiologen Peter A. Noble von der University of Washington und den Bioinformatiker Alex E. Pozhitkov vom Beckman Research Institute hat Hinweise auf einen bislang kaum beachteten biologischen Übergangszustand entdeckt – zwischen Leben und Tod. Sie nennen ihn den „dritten Zustand“.

 

In einer Übersichtsarbeit, veröffentlicht im renommierten Fachjournal Physiology (Bethesda), beschreiben Noble und Pozhitkov zelluläre Prozesse, die nach dem Tod eines Organismus weiterhin aktiv sind – und in einigen Fällen sogar zu neuartigen, funktionalen Strukturen führen können. Die Arbeit basiert auf einer wachsenden Zahl experimenteller Befunde der letzten Jahre, darunter auch spektakuläre Laborversuche mit sogenannten Xenobots und neuartigen Zellkollektiven aus menschlichem Gewebe.

 

Vom Zellverfall zur Neuorganisation 

Schon 2021 hatte ein Team der Tufts University und der University of Vermont in der Fachzeitschrift PNAS gezeigt, dass Hautzellen aus toten Embryonen der afrikanischen Krallenfroschart Xenopus laevis sich im Labor zu winzigen, funktionstüchtigen Gebilden formieren können – den sogenannten Xenobots. Diese Zellstrukturen sind in der Lage, sich zu bewegen, einfache Aufgaben zu erfüllen und sich sogar selbst zu heilen.

 

Xenobots bestehen ausschließlich aus biologischem Material – konkret aus Haut- und Muskelzellen von Fröschen –, doch ihre Eigenschaften erinnern an primitive Roboter. Sie reagieren auf Reize, bewegen sich gezielt fort und können sich in begrenztem Umfang sogar reproduzieren.

 

Anthrobots: Menschliche Zellen mit neuen Rollen 

Im Jahr 2023 berichteten Forscher der University of North Carolina und der Tufts University zudem von sogenannten Anthrobots – selbstorganisierenden Strukturen aus menschlichen Lungenzellen. Auch diese entwickelten im Labor unerwartete Funktionen: Sie konnten geschädigtes Gewebe reparieren und kommunizierten miteinander über bioelektrische Signale.

 

Die Forschenden vermuten, dass biologische Ionenkanäle und elektrische Impulse – gewissermaßen „zelluläre Schaltkreise“ – auch nach dem Tod eines Organismus kurzzeitig erhalten bleiben und in dieser Phase eine neue Dynamik ermöglichen.

 

Evolutionärer Nutzen des Todes? 

Für Noble und Pozhitkov ist der „dritte Zustand“ mehr als ein faszinierendes Randphänomen: Er könnte eine evolutionäre Bedeutung haben. „Der Tod eines Organismus ist möglicherweise kein reines Ende, sondern ein Übergang, in dem Zellen neue Rollen annehmen können“, schreiben sie in ihrer Studie. Die Autoren fordern, den Tod nicht mehr nur als biologischen Stillstand zu begreifen, sondern auch als Ausgangspunkt für neue Formen zellulärer Organisation.

 

Medizinische und ethische Dimensionen 

Ob sich der „dritte Zustand“ künftig medizinisch nutzen lässt – etwa zur Reparatur von Gewebe oder zur Entwicklung intelligenter Zelltherapien – ist noch offen. Klar ist aber: Die Forschung steht erst am Anfang, und viele Fragen sind noch unbeantwortet. Wie lange können solche Zellsysteme überleben? Welche Steuermechanismen sind erforderlich? Und wie lässt sich ethisch mit biologischen Entitäten umgehen, die weder eindeutig tot noch eindeutig lebendig sind?

 

Trotz dieser offenen Fragen ist die Entdeckung des „dritten Zustands“ ein Wendepunkt in der Biologie. Sie zwingt dazu, die Grenzen des Lebens neu zu definieren – und eröffnet zugleich ein faszinierendes neues Forschungsfeld.

 

Hintergrund: Was sind Xenobots? 

Xenobots sind winzige, biologisch erzeugte Strukturen, die ausschließlich aus Zellen bestehen. Der Name leitet sich von der Froschart Xenopus laevis ab, deren Zellen in der Regel verwendet werden. Im Gegensatz zu herkömmlichen Robotern enthalten Xenobots keine künstlichen Komponenten. Dennoch sind sie in der Lage, sich zu bewegen, Materialien zu transportieren und in begrenztem Maße zu „lernen“. Ihre potenzielle Anwendung reicht von der gezielten Medikamentenabgabe bis zur Entfernung von Mikroplastik in aquatischen Systemen.

 

Was früher als endgültig galt, wird nun neu gedacht: Leben, Tod – und etwas dazwischen. Die Entdeckung eines biologischen „dritten Zustands“ könnte unser Verständnis von Vitalität, Zellverhalten und evolutionären Prozessen grundlegend verändern.


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