
DMZ – MEDIEN ¦ Anton Aeberhard ¦
Analyse von Christian Drostens Essay „Freiheit und Pflicht der Wissenschaft“
Mit seinem Essay „Freiheit und Pflicht der Wissenschaft“ legt Christian Drosten, Virologe an der Charité Berlin, eine präzise, zugleich mahnende Analyse der gegenwärtigen gesellschaftlichen Lage vor. Er beschreibt nicht weniger als den Erosionsprozess von Rationalität, die Aushöhlung wissenschaftlicher Standards und die Gefährdung demokratischer Grundpfeiler – ausgelöst durch den laxen Umgang mit Fakten und das Schweigen der wissenschaftlichen Gemeinschaft angesichts wachsender Wissenschaftsfeindlichkeit.
Ein Plädoyer für Demut vor der Wirklichkeit
Drosten schlägt einen Ton an, der gleichermaßen persönlich wie analytisch ist. Er benennt als zentrales Problem unserer Zeit den Verlust eines gemeinsamen Verständnisses für Realität – für das, was faktisch ist. Die „postfaktische“ Haltung vieler Akteure in Politik und Öffentlichkeit sorge dafür, dass Argumente nicht mehr an der Realität gemessen, sondern nach politischem Nutzen geformt würden. Drostens Diagnose: Ein tiefer Bruch in der Kultur der Aufklärung.
Diese Entwicklung untergräbt laut Drosten nicht nur das Vertrauen in wissenschaftliche Institutionen, sondern die Demokratie selbst. Denn wenn es keine gemeinsame Basis mehr für das Ringen um die Wahrheit gibt, zerfällt die öffentliche Debatte in bloße Meinungsäußerungen – und wird zum Spielplatz populistischer Vereinfachungen.
„Die Wissenschaft hat ein eiskaltes Händchen“
Ein zentraler Satz des Textes lautet: „Die Wissenschaft hat ein eiskaltes Händchen.“ Damit meint Drosten die Unbestechlichkeit empirischer Fakten – unabhängig von politischer Agenda oder persönlichem Wunschdenken. Die Wissenschaft könne, ja dürfe sich nicht dem Narrativ beugen, sondern müsse Irrtümer erkennen, benennen und korrigieren. Genau diese Haltung aber sei gesellschaftlich immer weniger präsent – in der politischen Öffentlichkeit, in sozialen Medien, in Talkshows.
Das ist keine Abrechnung mit der Gesellschaft, sondern ein Appell zur Selbstverantwortung der Wissenschaft selbst: Sie muss, so Drosten, nicht nur Ergebnisse liefern, sondern auch für den Wert von Objektivität, Methodik und demokratischer Verantwortlichkeit einstehen – und notfalls widersprechen, wo populistische Verzerrungen die Oberhand gewinnen.
Schweigen aus Angst – die strukturelle Schwäche der Wissenschaft
Drosten analysiert weiter, warum sich viele Wissenschaftlerinnen trotz wachsender Bedrohung zurückhalten: Es sei der Leistungsdruck, der Karrierezwang, die Angst vor Reputationsverlust oder beruflicher Unsicherheit – insbesondere unter Nachwuchswissenschaftlerinnen. Diese systemischen Schwächen führen zu einem Rückzugsverhalten, das in einer polarisierten Öffentlichkeit verheerend wirken kann.
Gerade deshalb fordert er eine klare Rolle für die Politik: Sie müsse wissenschaftliche Institutionen nicht nur finanzieren, sondern auch öffentlich stärken und gegen Angriffe verteidigen. Die „Freiheit der Wissenschaft“, so Drosten, müsse mit einer Pflicht zur öffentlichen Debatte und zur demokratischen Teilhabe einhergehen.
Ein Essay, der Haltung zeigt – und zur Diskussion zwingt
Drostens Text ist ein selten deutlicher Appell zur politischen Wachsamkeit – und zur moralischen Integrität der Wissenschaft. Er steht in der Tradition aufklärerischer Mahnschriften, ohne nostalgisch zu wirken. Was den Essay besonders macht, ist nicht nur seine intellektuelle Tiefe, sondern die biografisch geerdete Ernsthaftigkeit, mit der er geschrieben wurde: Hier spricht jemand, der den pandemischen Sturm nicht nur wissenschaftlich, sondern auch gesellschaftlich und persönlich durchlebt hat.
Und genau darum ist dieser Text auch mehr als eine Wortmeldung zur Wissenschaftskommunikation. Er ist ein Weckruf – an Medien, Politik und die Wissenschaft selbst.
Aus journalistischer Sicht ist Drostens Essay ein starkes, reflektiertes und fundiertes Dokument unserer Gegenwart. Er benennt Missstände ohne Polemik, ruft zur Verantwortung ohne Selbstgefälligkeit und macht deutlich, wie eng die Zukunft von Wissenschaft und Demokratie miteinander verwoben sind. Für eine breite Öffentlichkeit verständlich, bleibt der Text dennoch differenziert und komplex – eine Leistung, die in der hitzigen Debattenkultur nicht hoch genug einzuschätzen ist.
Dass ein führender Wissenschaftler sich mit solcher Klarheit äußert, ist nicht selbstverständlich. Es verdient Beachtung – und sollte breit rezipiert werden. Denn Drostens zentrale Botschaft ist klar: Wissenschaft ist kein elitäres Hobby, sondern Teil des demokratischen Kerns. Wer sie schwächt, gefährdet nicht nur Erkenntnis, sondern Freiheit.
Christian Drostens Essay ist nicht nur ein Beitrag zur Wissenschaftsethik, sondern ein Kommentar zum Zustand der Demokratie. Es ist Zeit, seine Worte ernst zu nehmen – und über die Frage zu diskutieren, welche Rolle Wissenschaft in einer von Unsicherheit und Desinformation geprägten Welt spielen soll.
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