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Die lautlose Katastrophe: Wie selbst Schutzgebiete ihre Insekten verlieren

DMZ – GLOBAL ¦ Anton Aeberhard ¦      

 

Ein Artikel im Guardian vom 3. Juni 2025 mit dem Titel „‘Half the tree of life’: ecologists’ horror as nature reserves are emptied of insects“ alarmiert nicht nur Fachleute. Der Bericht der Journalistin Tess McClure schildert anhand der Forschung von Daniel Janzen und Winnie Hallwachs in Costa Rica ein dramatisches ökologisches Sterben: Selbst in geschützten Urwäldern, weit entfernt von Pestiziden und direkter menschlicher Einflussnahme, verschwinden Insekten in einem Ausmaß, das Fachleute als „katastrophal“ bezeichnen. Die Beobachtungen werfen einen düsteren Schatten auf den Zustand globaler Biodiversität – und auf unsere Zukunft.

 

Der Verlust im Verborgenen

Insekten sind das Fundament terrestrischer Nahrungsketten. Ihre Zahl und Vielfalt beeinflussen das Überleben unzähliger Vogelarten, Amphibien, Reptilien und Säugetiere. Doch was Janzen und Hallwachs beobachten, geht weit über natürliche Schwankungen hinaus. An exakt denselben Stellen, zu denselben Jahres- und Mondzeiten, unter denselben Lichtbedingungen, bleiben die weißen Laken ihrer Lichtfallen heute fast leer – wo sich in den 1970er Jahren noch Tausende von Motten drängten.

 

Ein globales Phänomen

Die Costa-Rica-Studie ist kein Einzelfall. In deutschen Naturschutzgebieten ist die Biomasse fliegender Insekten laut einer Langzeitstudie um 75 % zurückgegangen. In den USA sanken Käferzahlen binnen 45 Jahren um 83 %, in Puerto Rico wurde ein Rückgang der Insektenbiomasse um das bis zu 60-Fache seit den 1970er Jahren dokumentiert. Besonders erschütternd: All diese Einbrüche fanden in ökologisch geschützten Regionen statt.

 

Vom Insektensterben zur ökologischen Kettenreaktion

Wo die Insekten schwinden, brechen ganze Nahrungsnetze zusammen. In Panama, Brasilien und den USA wurde der Rückgang von Insektenfressern wie Vögeln und Eidechsen auch in „unberührten“ Gebieten dokumentiert. In Puerto Rico beschreiben Wissenschaftler das Phänomen als „trophische Kaskade“ – der Zusammenbruch der Nahrungsnetze von unten nach oben.

 

Die Rolle des Klimawandels

Während früher hauptsächlich Pestizide, Habitatverlust und Lichtverschmutzung für den Rückgang verantwortlich gemacht wurden, rückt nun der Klimawandel ins Zentrum der Diskussion. Längere Trockenzeiten, extreme Hitze und veränderte Regenzyklen verändern selbst entlegenste Ökosysteme. In Costa Rica etwa hat sich die Trockenzeit laut Janzen seit den 1960er Jahren von vier auf sechs Monate verlängert – mit gravierenden Folgen für Flora und Fauna.

 

Zahlenspiele und das trügerische Bild der „nur zwei Prozent“

Ein jährlicher Rückgang der Insektenbiomasse um „nur“ zwei Prozent mag harmlos erscheinen. Doch innerhalb von 40 Jahren bedeutet das den Verlust von fast der Hälfte aller Insekten. Und diese Zahl könnte laut dem Entomologen David Wagner in besonders betroffenen Regionen sogar auf fünf Prozent steigen – pro Jahr. „Das ist keine Erosion – das ist ein Zusammenbruch“, warnt Wagner.

 

Warum das Insektensterben nicht mehr ignoriert werden kann

Oft wird der dramatische Rückgang mit dem Argument relativiert, dass es an Langzeitdaten fehle. Doch die Kaskadenwirkungen – das Verschwinden ganzer Vogelarten, das Ausbleiben der Bestäubung, das Verschwinden von Fröschen, Eidechsen und Schlangen – sind unübersehbar. Janzen beobachtet in seinem Untersuchungsgebiet inzwischen, wie Blüten nicht mehr bestäubt werden – weil die Bestäuber fehlen.

 

Ein ökologisches Alarmsignal

Der Verlust von Insekten in geschützten Gebieten offenbart eine stille Katastrophe, die sich durch alle Ökosysteme zieht. Es ist kein regionales Problem, keine Folge einzelner Fehlentwicklungen – sondern Ausdruck einer planetaren Krise. Wenn selbst weitgehend intakte Urwälder zu leblosen Kulissen verkommen, dann ist das Insektensterben kein Vorbote mehr – sondern Teil eines längst begonnenen ökologischen Zusammenbruchs.

 

Politischer Handlungsbedarf

Was jetzt gebraucht wird, sind globale Anstrengungen zur Reduktion von Treibhausgasen, zur Begrenzung industrieller Landwirtschaft und zur Wiederherstellung ökologischer Vielfalt. Zudem braucht es drastisch mehr Mittel für die Erforschung weniger beachteter Arten – denn nur was bekannt ist, kann auch geschützt werden. Der Appell der Ökologen ist unmissverständlich: Wenn wir nicht handeln, verlieren wir nicht nur „halfen Baum des Lebens“, wie Wagner es ausdrückt. Wir sägen ihn gerade selbst ab.


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