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Unsichtbare Gefahr: Wie das Versagen der Medizin im Umgang mit der Luftübertragung tödlich wurde

DMZ – KULTUR ¦ Sarah Koller ¦

 

Carl Zimmers neues Buch entlarvt die Ignoranz gegenüber wissenschaftlichen Erkenntnissen – mit verheerenden Folgen für die öffentliche Gesundheit

 

Berlin – In seinem neuesten Werk Air-Borne: The Hidden History of the Life We Breathe (Dutton, 2025) schreibt der renommierte Wissenschaftsjournalist Carl Zimmer eine ebenso brillante wie erschütternde Geschichte der Medizin – und legt eine zentrale Schwäche der modernen Gesundheitskultur offen: ihre Bereitschaft, wissenschaftliche Erkenntnisse zugunsten politischer oder kultureller Bequemlichkeit zu ignorieren.

 

Was mit Louis Pasteurs bahnbrechender Keimtheorie im 19. Jahrhundert begann, wird bei Zimmer zu einer Chronik verpasster Chancen, ignorierter Evidenz – und millionenfachen Leids. Die These des Buches ist ebenso klar wie beunruhigend: Selbst wenn wir wissen, wie Krankheiten entstehen und sich verbreiten, handeln Politik und Institutionen oft aus ideologischen, nicht aus wissenschaftlichen Motiven.

 

Zwischen Keimen, Klassen und kulturellem Widerstand

Zimmers Rückblick beginnt mit Pasteurs Sieg über konkurrierende Krankheitsmodelle: die „Miasma“-Theorie, die Krankheiten auf „vergiftete Luft“ zurückführte, und Rudolf Virchows Theorie der sozialen Determinanten, die Armut und Unwissenheit als Ursachen benannte. Während Miasmen heute als überholt gelten, wurde Virchows Ansatz nie wirklich berücksichtigt – wohl auch, weil seine Umsetzung gesellschaftliche Umwälzungen erfordert hätte.

 

Pasteurs Erkenntnisse führten zu hygienischen Revolutionen – doch die Idee, dass Krankheiten sich durch die Luft verbreiten können, stieß auf hartnäckigen Widerstand. Aerobiologie – die Lehre von durch die Luft übertragenen Mikroorganismen – blieb eine Randwissenschaft. Forschende wie William und Mildred Wells zeigten bereits in den 1930er Jahren, dass Tuberkulose durch Luft übertragen werden kann und dass UV-Licht die Ausbreitung von Masern in Klassenzimmern reduzieren kann. Doch ihre Forschung wurde ignoriert – nicht zuletzt, weil sie als „schwierige Persönlichkeiten“ galten.

 

Biowaffen und blinder Fleck

Erst das US-Militär nahm das Thema ernst – aus Angst vor biologischer Kriegsführung. Während des Zweiten Weltkriegs arbeitete der Zahnarzt und Mikrobiologe Theodor Rosebury an der Entwicklung von Biowaffen wie Anthrax. Seine spätere Warnung vor den Gefahren biologischer Kriegsführung brachte ihm politische Repression und ein faktisches Berufsverbot ein. Ironischerweise führte ihn seine Forschung zum Verständnis des menschlichen Mikrobioms – Jahrzehnte bevor dies zum Trendthema wurde.

 

Trotz wachsender Hinweise aus Pandemien – von der Hongkong-Grippe 1957 bis hin zu SARS-CoV-1 im Jahr 2003 – blieb die Übertragung durch die Luft ein Tabu. Die Vorstellung, dass winzige Aerosole über Distanzen hinweg infektiös sein könnten, wurde in der Fachwelt belächelt oder ignoriert. Der Mediziner David Milton beschreibt dies im Buch als „religiösen Glauben“ – nicht als wissenschaftliches Argument.

 

Das Versagen in der Pandemie

Mit dem Ausbruch von SARS-CoV-2 im Jahr 2020 kulminierte dieser blinde Fleck in einer globalen Katastrophe. Die WHO relativierte frühzeitig die Möglichkeit der Luftübertragung. Auch in Kanada sprach die oberste Gesundheitsbeamtin der Provinz British Columbia, Dr. Bonnie Henry, noch im Jahr 2020 von einer „Sturm-im-Wasserglas“-Debatte über Aerosole – obwohl mittlerweile klar ist, dass das Virus vor allem über die Luft übertragen wurde.

 

Die Folgen dieser Fehleinschätzungen sind gravierend: Plexiglasbarrieren und Abstandregeln wurden durchgesetzt, während effektive Schutzmaßnahmen wie Luftreinigung, CO₂-Messung und Maskenpflicht vernachlässigt wurden. Der Preis war hoch: ein massiver Vertrauensverlust in Gesundheitsinstitutionen – nicht nur bei der Bevölkerung, sondern auch unter Fachleuten.

 

Die Luft, die wir atmen

In der letzten Passage seines Buches verweist Zimmer darauf, dass Mikroben mit jeder Meereswelle, jedem Waldbrand und jeder Wolke in die Luft gelangen. Die meisten sind harmlos – doch Luftverschmutzung tötet laut WHO jedes Jahr 8,1 Millionen Menschen weltweit.

 

Und während sauberes Trinkwasser in industrialisierten Staaten als selbstverständlich gilt, atmen wir in Schulen, Krankenhäusern und Büros weiter krankmachende Luft – trotz jahrzehntelanger Forschung, die auf das Gegenteil hindeutet.

 

Zimmer schließt mit einem düsteren Ausblick: Erst eine neue Pandemie – etwa durch das hochgefährliche H5N1-Virus – könnte den politischen Willen erzeugen, die Luft, die wir atmen, endlich ernst zu nehmen.

 

 

 

Quellenangabe:

Basiert auf der ausführlichen Rezension von Crawford Kilian auf The Tyee:

Crawford Kilian, Airborne: A Brilliant Book about the Tragedy of Medical Culture, The Tyee, 13. Mai 2025.

https://thetyee.ca/Culture/2025/05/13/Airborne-Carl-Zimmer-Review


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