
DMZ – POLITIK ¦ Sarah Koller ¦
Berlin-Neukölln – Ein Bericht über rechtsextreme Aktivitäten im Berliner Bezirk Neukölln hat für erhebliche politische Spannungen gesorgt. Der von der Bezirksverordnetenversammlung bereits 2017 geforderte Bericht, der unter der Verantwortung von Jugendstadträtin Sarah Nagel (Die Linke) erstellt wurde, dokumentiert auf 60 Seiten rechtsextreme Straftaten und Netzwerke im Bezirk. Doch nur wenige Tage nach seiner Veröffentlichung wurde das Dokument aus dem Internet genommen, was Spekulationen über politischen Druck auslöste. Die taz veröffentlichte den Bericht daraufhin selbst, um die Debatte am Leben zu halten.
Eine lange Geschichte rechter Gewalt
Neukölln steht seit Jahren im Fokus, wenn es um rechtsextreme Aktivitäten geht. Bereits 2016 spitzte sich die Lage im Bezirk zu: Autos von politisch engagierten Menschen wurden angezündet, Reifen zerstochen, Fensterscheiben eingeworfen und Droh-Graffiti gesprüht. Ein besonders tragischer Fall war der bis heute ungeklärte Mord an dem 22-jährigen Burak Bektaş im Jahr 2012. Im Oktober 2024 wurden erneut die Autoreifen des Buchhändlers Heinz Ostermann, der sich gegen Rechtsextremismus engagiert, zerstochen. Im Dezember 2024 verurteilte ein Berufungsprozess zwei Neonazis, von denen einer früher für die AfD aktiv war, zu Haftstrafen von bis zu dreieinhalb Jahren für Taten aus einer Anschlagsserie.
Der Bericht, der sich auf das Jahr 2023 konzentriert, zählt 208 von der Polizei registrierte rechtsextreme Straftaten sowie 400 Delikte, die vom unabhängigen Register Neukölln dokumentiert wurden. „Neonazis sind weiterhin verankert und eine Gefahr im Bezirk“, heißt es im Vorwort des Berichts, das von „langjährigen Kontinuitäten“ rechter Aktivitäten spricht.
Politischer Streit um den Bericht
Die Veröffentlichung des Berichts löste sofort Kontroversen aus. Besonders die Benennung der AfD als „in Teilen rechtsextreme Partei“ in der Einleitung des Bezirksamts sorgte für Kritik. Die Neuköllner CDU, vertreten durch ihren Kreisvorsitzenden Falko Liecke, forderte die vollständige Rücknahme des Berichts. Sie warf dem Dokument „methodische Mängel“ sowie „unanständige Angriffe“ auf die Polizei vor und kritisierte Forderungen nach einer Abschaffung von Sicherheitsbehörden.
Bürgermeister Martin Hikel (SPD) ließ über seinen Sprecher ausrichten, der Bericht werde derzeit „überarbeitet“. Jugendstadträtin Nagel räumte „Differenzen“ innerhalb des Bezirksamts ein, betonte jedoch, dass der Bericht einem klaren Auftrag der Bezirksverordnetenversammlung folge. „Wenn es Verbindungen der AfD zu Neonazis gibt, muss das benannt werden“, erklärte sie und verwies auf zweifelsfrei belegte Verbindungen, die auch in Untersuchungsausschüssen dokumentiert wurden.
Rechtsextremismus im Bezirk detailliert dokumentiert
Der Bericht des Bezirksamts Neukölln bietet auf rund 60 Seiten eine faktenbasierte Analyse der rechtsextremen Bedrohungslage im Jahr 2023. Die Polizei registrierte 208 rechtsextrem motivierte Straftaten, während das unabhängige Register Neukölln sogar 400 Vorfälle dokumentierte. Die Delikte reichen von Hakenkreuz-Schmierereien und antisemitischen Drohungen über queerfeindliche Beleidigungen bis hin zu körperlichen Angriffen. Besonders alarmierend ist der Anstieg antisemitischer Vorfälle im letzten Quartal des Jahres.
Ein Schwerpunkt des Berichts liegt auf dem sogenannten „Neukölln-Komplex“, einer Serie rechter Anschläge zwischen 2016 und 2019, deren Aufarbeitung bis heute für Kritik sorgt. Mindestens 72 Straftaten, darunter Brandanschläge und gezielte Einschüchterungsversuche gegen engagierte Bürger:innen, werden darin zusammengefasst. Persönliche Beiträge von Betroffenen wie der Buchhändlerfamilie Ostermann oder der Aktivistin Christiane Schott zeigen eindrücklich, wie stark die Gewalt in das Leben Einzelner eingreift – und wie schleppend die staatliche Aufklärung vorankommt.
Neben der Analyse liefert der Bericht auch Empfehlungen: So wird die Schulung von Fachkräften, die Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen und eine bessere Zusammenarbeit zwischen Polizei und unabhängigen Stellen angemahnt. Der Bericht stellt klar: Rechtsextremismus in Neukölln ist kein abgeschlossenes Kapitel, sondern ein fortbestehendes Problem, das kontinuierliche Aufmerksamkeit und politisches Handeln erfordert.
Reaktionen aus der Zivilgesellschaft
Antifaschistische Gruppen und zivilgesellschaftliche Akteure in Neukölln unterstützen die Veröffentlichung des Berichts. Sie sehen darin ein wichtiges Signal, um die anhaltende Bedrohung durch rechtsextreme Netzwerke sichtbar zu machen. Gleichzeitig wird kritisiert, dass die plötzliche Rücknahme des Dokuments Ängste vor einer politischen Einflussnahme durch konservative Kräfte schürt. „Ein Bezirksamt muss rechtsextreme Gefahren benennen dürfen, egal woher sie kommen“, betonte ein Vertreter der Initiative Neukölln gegen Rechts, der anonym bleiben wollte.
Wie geht es weiter?
Der Streit um den Bericht wirft grundsätzliche Fragen auf: Wie kann ein Bezirk wie Neukölln, der seit Jahren mit rechtsextremer Gewalt konfrontiert ist, transparent und effektiv gegen diese Bedrohung vorgehen? Der Bericht selbst fordert eine Fortschreibung, um die Entwicklung rechtsextremer Aktivitäten weiter zu beobachten. Ob und wann eine überarbeitete Version veröffentlicht wird, bleibt unklar. Für Neukölln bleibt die Auseinandersetzung mit Rechtsextremismus eine zentrale Herausforderung. Der Bezirk, der für seine kulturelle Vielfalt bekannt ist, steht vor der Aufgabe, Solidarität und sozialen Zusammenhalt zu stärken, ohne dabei die Augen vor extremistischen Gefahren zu verschließen.
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Irmela Mensah-Schramm (Donnerstag, 01 Mai 2025 08:34)
Diesen Bericht könnte man allerdings auch "vergessen", denn weder das Register, noch die Linke in Berlin-Rudow interessieren meine tatsächlichen strafrechtlichen Funde der Nazipropaganda.
Meine Meldungen zu meinen Funden der allein 166 NS- Symbole (144 Hakenkreuze, 22 Odalrunen und Keltenkreuze) in ca. 9 Monaten 2023 in Berlin Rudow interessiert die überhaupt nicht.
Ich erlebe es als auswärtige, die seit 30 Jahren regelmäßig in Rudow unterwegs und aktiv ist, die Ignoranz all der in Ihrem Artikel genannten ist offensichtlich. Diese Symbole waren auch oft über ein Jahr sichtbar!
Ich zeige mit meinem Finger in die offene Wunde der gnadenlos scheinheiligen Gesellschaft und Politik und das macht mich zur "Nestbeschmutzerin"!