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Die Staatsquote in Deutschland signalisiert tatsächlich Herausforderungen – aber das ist nur ein Nebenbefund, der selten korrekt eingeordnet wird

DMZ –  POLITIK ¦ Dirk Specht ¦ 

KOMMENTAR

 

Das statistische Bundesamt meldet den Anstieg der Staatsquote auf 49,5% und schon geht es los: Sozialismus, Staatswirtschaft, Planwirtschaft sind die typischen Kampfbegriffe, teilweise sogar renommierte Ökonomen, die sich tatsächlich viel differenzierter äußern, werden mit verkürzten Aussagen zitiert, eine Staatsquote über 50% sei generell kritisch. Bei den typischen Schuldzuweisungen geht es dann munter durcheinander, das sind Folgen einer linken Politik und die üblichen Verdächtigen werden genannt: Bürokratie, überbordende Verwaltungen, mangelnde Effizienz sowie natürlich Bürgergeldempfänger, Flüchtlinge, Migranten, Ausländer. Die Schuldigen sind also entweder politische Feindbilder, „der Staat“ oder irgendwelche Randgruppen.

 

Vorweg: Die Staatsquote ist in Deutschland tatsächlich ein Signal für sogar mehrere relevante ökonomische Probleme, das bestreite ich gar nicht, das bestreiten auch differenziertere Beiträge nicht. Man muss das leider vor einer Analyse so formulieren, weil die sonst gar nicht gelesen wird, sondern in irgendeiner Schublade linker Ideologie verschwindet. Es geht in der Tat um die dahinter stehenden Probleme, die sehr lange bekannt und äußert relevant sind, die aber seit Jahrzehnten verdrängt werden – und zwar ausdrücklich auch durch solche unterkomplexen Beiträge wie wir sie von unserer Wirtschaftspresse über diverse Ökonomen bis zu der vielschichtigen „Expertenebene“ in den digitalen Plattformen jetzt schon wieder erleben. Ich habe in den letzten Tagen dutzende Kommentare bei renommierten Wirtschaftsmedien, Akademikern und Leuten aus Verbänden sowie Unternehmen hinterlassen müssen, weil auch die der notwendigen Debatte einmal mehr nur Schaden zufügen!

 

Dies vorweggenommen möchte ich zunächst mal mit den Kampfbegriffen aufräumen. Die Staatsquote in Deutschland hat nichts mit Staatswirtschaft, Planwirtschaft oder gar Sozialismus zu tun. Das sind einfach nur fachlich falsche Begriffsverwendungen. Die Strukturen unseres Staats, vom Grundgesetz und dem dort tief verankerten Eigentumsbegriff, aus dem die getrennte Rolle von Staat sowie Privatsektor hervor geht, über die Regulierung von Fördermittelvergaben bis zu föderalen Zuständigkeiten sowie nicht zuletzt der EU-Struktur (Fördermittel, Wettbewerbsordnung, Freihandel etc.) sind gänzlich andere als in Systemen, auf die man diese Kampfbegriffe anwenden könnte. Das ist rein politische Agitation, die sich inzwischen so breit gemacht hat, dass man schon als „Linker“ bezeichnet wird, wenn man darauf hinweist, dass wir kein sozialistisches System haben und das auch fachlich bitte korrekt trennen sollten. Wir können gerne über Defizite unseres Systems streiten, wir können auch ganz andere Entwürfe diskutieren, aber mit falschen Fachbegriffen und Bezeichnungen sollten wir das nicht beginnen.

 

Damit zur Bedeutung der Staatsquote in der Wissenschaft. Hier könnte es enden, denn es gibt diese Bedeutung nicht. Die Staatsquote sagt für sich genommen nämlich gar nichts aus. Auch Aussagen, dass ab irgendeiner Quote von 50% irgendein Problem erkennbar sei, sind falsch. Ich habe zur Belustigung anbei ein paar konkrete Staatsquoten (die höchsten, die niedrigsten, die G20, die EU) dokumentiert und ohne jede Fachkenntnis kann man erkennen: Das geht munter durcheinander. Die Staatsquote korreliert mit genau gar nichts. Es gibt sehr erfolgreiche Staaten mit hohen und solche mit niedrigen Staatsquoten, ebenso gibt es Pleitestaaten mit hohen oder niedrigen Staatsquoten. Egal, ob man nach hohen Werten sucht, wird man sowohl Staaten finden, in denen man gerne leben würde als auch solche, die man vermutlich sogar als Reisender besser meidet – und bei den niedrigen ist das nicht anders.

 

Es ist daher wie mit der Schuldenquote und allen anderen: Diese makroökonomischen Parameter sagen für sich genommen nichts aus. Es geht um Relationen, Ursachen, Wirkungen – man muss also tiefer graben. Das beginne ich mit einer etwas kurzen Liste von historischen Staatsquote seit 1890. Hier erkennt man, dass die anfangs sehr niedrig waren und damalige Ökonomen würden heute selbst bei Werten der USA vermutlich von Weltuntergängen reden. Daraus darf man lernen, dass auch in der Ökonomie das Wissen altert und wer heute aus seinem Studium der 80er (oder seinen damaligen Vorlesungen, werter Herr Prof. H.W. Sinn et al.) zitiert, der sollte sich seiner nicht unerheblichen Fehlerwahrscheinlichkeit bewusst sein.

 

Auffällig in dieser Liste ist, dass sich bis Mitte der 90er ein Mittelwert von über 50% gebildet hatte und zwar enorm schnell. Die Differenzen zwischen den Ländern sehen aus heutiger Sicht groß aus – Schweiz 45%, Skandinavien teilweise bis 60% – aber mit dem Blick von 1890 ist das alles jenseits jeglicher Vorstellung. Was ist passiert: Wir sehen hier den Aufbau von Sozialstaaten in den westlichen Industrieländern nach dem WKII. Daher auch die große Ausnahme USA, die das nämlich bis heute nicht gemacht haben. Außer den USA haben aber letztlich alle Länder entschieden, die wesentlichen sozialen Sicherungssysteme – Alter, Gesundheit, Arbeitslosigkeit sowie diverse Formen der fehlenden Erwerbsfähigkeit – durch staatliche Sicherungssysteme zu organisieren. Bis heute ist das die mit großem Abstand relevanteste Erklärung für diese bunt gemischten Ergebnisse bei den Staatsquote aus den o.g. weltweiten Tabellen. Es sollte jedem klar sein, dass Länder wie Singapur, Saudi Arabien, Irland (Sitz globaler Holdings) etc. besondere Rollen einnehmen und daher gesondert zu bewerten sind. Kann man machen, ist interessant, aber nicht übertragbar und nicht relevant für die große Weltkarte.

 

Ich fasse zusammen: Wir sehen als Treiber der Staatsquote die Idee unserer Sozialstaaten. Wer also in den Industrieländern die Staatsquote kritisiert, bewertet den jeweiligen Sozialstaat. Kann man machen, sollte man sogar, aber das muss korrekt adressiert werden. Reden wir also gerne über die Konzepte der Sozialstaaten, aber bitte nicht über Planwirtschaft oder Eingriffe des Staats in den Wirtschafskreislauf etc. Man kann auch die ganze Idee negieren und das Modell der USA, die sich nur für ein absolutes Mindestmaß an staatlicher sozialer Absicherung entschieden haben, befürworten. Alles legitime Positionen, aber die vielen kruden Thesen, die wir jetzt wieder lesen, gehen – oft mit Absicht – am Thema vorbei.

 

In der Tabelle habe ich bewusst die Schweiz und Norwegen heraus gegriffen, denn das sind zwei Staaten, die sich bei der Gestaltung ihrer sozialen Sicherungssysteme unterschiedlich entschieden haben und zwar beide sehr erfolgreich. Die Schweiz hat eine stark regulierte Form der Mindestabsicherung – wobei das ein Minimum auf hohem Niveau ist – durch privatwirtschaftlich organisierte Pensionskassen eingerichtet. Alles weitere ist dort dem einzelnen überlassen. Das führt zu einer tendenziell niedrigeren Staatsquote, wobei das nur ein Nebenbefund ist. Norwegen hat sich entschieden, die Vorsorge in weit höherem Maße zentral durch den Staat zu organisieren und dafür den bekannten großen Staatsfonds geschaffen. Das führt zu weiter steigenden Staatsquoten, wobei auch das nur ein Nebenbefund ist. Beide Wege zeichnen sich dadurch aus, dass sie sehr effizient, sehr erfolgreich und sehr robust sind, denn ihre Konzeption ist in einem Punkt identisch: Man schafft seit Jahrzehnten Rücklagen für zukünftige Lasten. Das ist also eine Fristentransformation, da die jeweils erwerbstätige Generation die für sie zukünftig erforderlichen Lasten selbst erwirtschaftet. So ein System ist vor allem sehr resilient gegen die Alterung einer Gesellschaft. Die Staatsquoten drücken das nicht aus, die entwickeln sich unterschiedlich.

 

Damit zu Deutschland: Seit Mitte der 80er monieren Finanzmathematiker, dass die unter Adenauer geschaffene Konzeption des „Generationenvertrags“ zu reformieren ist, da der demografische Wandel beginnt. Das hatten übrigens die Experten der Ära Adenauer bereits so gesagt. Das waren kluge Leute, die viele, die sie heute noch – zurecht – feiern, vielleicht genauer lesen sollten. Sucht man nämlich die „Schuldigen“ für unsere heutige Staatsquote, so sind es Adenauer, Ehrhardt und deren Experten! Die aber hatten genau das aufgeschrieben, was deren Nachfolger so gerne übersehen. Was war nämlich passiert: Es gab beginnend mit dem Preußischen System bis ins Deutsche Kaiserreich ein rücklagenbasiertes soziales Sicherungssystem, wie überall auf der Welt. Durch den Krieg waren die Rücklagen aber weg. In Frankreich nebenbei auch. Nun hatte man ein zerstörtes Land, keine finanzielle Basis und es gab viele Alte, die versorgen waren. Der Generationenvertrag war also die klügste Lösung und der war sogar eine der Grundlagen für das „Wirtschaftswunder“, denn in einer demografisch jungen Gesellschaft gibt es nichts billigeres und nichts effizienteres als die große arbeitende Mehrheit mit sehr geringen Abgaben die kleinere alte Minderheit versorgen zu lassen. Das war über Jahrzehnte jedem System, das mühsam Rücklagen bildet, überlegen. Aber die Gründerväter des Systems hatten genauso darauf hingewiesen, welche Nachteile es hat: Es ist nicht resilient bei einem demografischen Wandel, es hat nur Vorteile, wenn die Balance zwischen Arbeitenden und Rentnern stimmt.

 

Genau dieser Trend gegen das System war Mitte der 80er absehbar und seitdem wird es von Dekade zu Dekade immer schwieriger. Keine Partei und keine politische Richtung thematisiert das ehrlich, denn anders als gerne dargestellt, betrifft es die überwältigende Mehrheit unserer Gesellschaft. Die weiteren Charts zeigen, wie das Volumen dieses Sozialstaats gewachsen ist und das liegt ganz wesentlich an der Demografie. Selbst mit Realbeträgen (diese sind leider nominal, also nicht inflationsbereinigt) wächst unser Sozialbudget immer weiter. Die Zahl der Alten und Kranken nimmt zu und das wird keine Regierung und keine Sparmaßnahme ändern. Man mag an der Stelle gerne über Effizienz sprechen, die steigenden Kosten in Pflege und Gesundheitsbereich kritisieren, aber auch hier wird zu viel durcheinander geworfen, denn die Ausgaben steigen wegen der Menge der alten und kranken Personen, nicht wegen der Preise in dem Sektor. Erneut gilt: An der Menge der zu versorgenden Menschen ändert niemand etwas, über die Preise mag man reden, aber das ist nicht der Hebel. Ebenso sind es nicht die Verwaltungskosten dabei. Auch die sind ein wichtiges Thema, ein problemlösendes sind sie nicht. Was auch gerne als Ablenkungsmanöver gemacht wird, sind natürlich die übrigens Verdächtigen, von Bürgergeld bis zu Flüchtlingen. Politisch simpel erklärbar: Wenn man keine Lösung anzubieten hat, erklärt man Minderheit zu Schuldigen, denn denen kann man weh tun, ohne sich selbst Widerstand anzutun. Tatsächlich rangieren die Ausgaben, über die in der großen Mehrzahl unserer Debatten ideologisiert und teilweise über alle Grenzen des Humanismus hinaus gestritten wird, statistisch unter „Sonstiges“.

 

Das Thema unserer Staatsquote heißt also: Finanzierung von Alter und Gesundheit. Das betrifft die große Mehrheit unserer Bevölkerung, als Steuerzahler, Beitragszahler, aktuelle und zukünftige Empfänger. Es ist weder „linke“, noch „rechte“ Politik, es sind auch nicht die ineffizienten Verwaltungen, „der fette Staat“, die Sozialhilfeempfänger, Flüchtlinge oder Ausländer. Das ist alles nur politische Agitation zwecks Ablenkung von der tiefen Ursache. Es ist ein seit 1949 laufendes System für die Versorgung des Großteils unserer Gesellschaft. Das wird immer größer, das wird immer schwieriger zu finanzieren. Es hat neben der Demografie die Schieflage, dass es zu zwei Dritteln aus Sozialbeiträgen über Arbeitsplätze und nur einem Drittel über Steuern finanziert wird. Wir belasten also die Arbeitskosten dadurch ganz erheblich, was zurecht als Wettbewerbsnachteil unserer Wirtschaft zu kritisieren ist.

 

Dieses System will niemand strukturell anfassen. Was die angeblich ökonomisch vorgebildete AfD-Weidel dazu von sich gibt, sei hier exemplarisch erwähnt. Sie behauptet allen Ernstes, die Staatsquote durch etwas zu verringern, was mit der Staatsquote gar nichts zu tun hat, nämlich Steuern und Abgaben senken. Die Staatsquote entsteht aber nicht durch die Einnahmen, sondern durch die Ausgaben des Staats. Wer also wie hier sagt, er verändere das, indem er die Einnahmen reduziert, setzt voraus, dass sein Publikum keine Ahnung hat, worum es überhaupt geht. Aber das Versprechen, Steuern und Abgaben zu senken, klingt immer toll, wer will das nicht. Dass in der Folge die Schulden steigen, sagt Weidel nicht. Nun kann man versuchen, gleichzeitig die Ausgaben zu kürzen, was also Rentenkürzungen oder das Zusammenstreichen des Gesundheitssystems bedeuten muss, wenn man da etwas erreichen möchte. Teile davon versuchte kürzlich die UK-Chefin Truss, die man dafür sofort entsorgte. Die aktuellere Fassung von diesem merkwürdigen Kurs, Einnahmen zu reduzieren, Ausgaben chaotisch zusammenzustreichen und damit vor allem die Wirtschaft runter zu fahren, führt der US-Chef Trump vor. Zumindest die Kapitalmärkte zeigen ihm, was sie davon halten: Dafür gibt keiner mehr das Geld.

 

Es ist ein schwieriges Thema, weil es fast jeden unter uns betrifft. Die seit Jahrzehnten notwendige Reform ist unbequem, teuer und bedeutet eine Veränderung für fast alle. Das will aber niemand sagen und erst recht nicht fordern, es ist leichter, Flüchtlinge dafür verantwortlich zu machen und goldene Zeiten mit weniger Steuern zu versprechen. Wen auch immer die deutschen Wähler zukünftig mandatieren, diesen Schlingerkurs fortzusetzen, die momentan ganz besonders beliebten Sprücheklopfer haben dazu den mit Abstand schlechtesten Instrumentenkasten.


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