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Studie deutet auf erhöhtes Long-COVID-Risiko unter Blutverdünnern hin

DMZ – FORSCHUNG ¦ A. Aeberhard ¦

 

Bisher galten Blutverdünner bei COVID-19 als möglicher Schutzfaktor gegen Spätfolgen – eine neue Analyse stellt dies infrage.

 

Eine groß angelegte Analyse elektronischer Gesundheitsdaten aus den USA sorgt für neues Nachdenken in der Long-COVID-Forschung: Demnach könnten orale Antikoagulanzien, also Blutverdünner, das Risiko für Long COVID nicht etwa senken – sondern im Gegenteil erhöhen. Die im Fachjournal Journal of Thrombosis and Thrombolysis veröffentlichte Studie lässt an bisherigen Annahmen zweifeln, wonach Medikamente wie DOACs (direkte orale Antikoagulanzien) oder Vitamin-K-Antagonisten vor Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion schützen könnten.

 

Was die Studie untersucht hat

Long COVID – medizinisch auch als post-acute sequelae of SARS-CoV-2 infection (PASC) bekannt – bezeichnet eine Vielzahl an Beschwerden, die Wochen oder sogar Monate nach einer akuten Infektion auftreten oder fortbestehen können. Zuvor war vermutet worden, dass eine gestörte Blutgerinnung und Entzündungsprozesse wesentlich zur Entstehung beitragen.

 

Vor diesem Hintergrund analysierte ein Forschungsteam um Freddy Frost, José Miguel Rivera-Caravaca und Gregory Y. H. Lip, ob bereits vor der Infektion eingenommene Antikoagulanzien einen präventiven Effekt haben könnten. Grundlage der Untersuchung war die TriNetX-Datenbank, die anonymisierte Patientendaten aus mehreren Millionen Behandlungsfällen – primär aus Krankenhäusern – umfasst.

 

Insgesamt wurden mehr als 2,3 Millionen COVID-19-Fälle untersucht. Davon nahmen 38.409 Personen zum Zeitpunkt der Infektion DOACs ein, 19.243 erhielten Vitamin-K-Antagonisten. Alle anderen hatten keine Antikoagulation. Um Verzerrungen auszuschließen, erfolgte ein sogenanntes Propensity Score Matching – also eine statistische Anpassung, um Unterschiede bei Alter, Vorerkrankungen und weiteren Faktoren auszugleichen.

 

Das Ergebnis:

  • Personen unter DOAC-Therapie hatten ein um 50 % erhöhtes Risiko, Long COVID zu entwickeln (Hazard Ratio: 1,50).
  • Bei Patient:innen mit Vitamin-K-Antagonisten lag das Risiko sogar fast doppelt so hoch (HR: 1,98).
  • Im direkten Vergleich schnitten DOACs etwas besser ab als VKAs (HR: 0,71), was allerdings die grundsätzliche Risikoerhöhung nicht relativiert.

 

Ein Schutzmechanismus, der keiner ist?

Die Studie lässt eine ernüchternde Schlussfolgerung zu: Eine bereits bestehende Blutverdünnung schützt nicht vor Long COVID – sie könnte sogar ein Indikator für besonders anfällige Personen sein. „Unsere Daten sollten nicht so verstanden werden, dass Antikoagulation grundsätzlich ausgeschlossen werden muss“, so die Autor:innen. Vielmehr zeigten sich hier Zusammenhänge, die auf bestehende Vorerkrankungen und eine bereits erhöhte Entzündungsneigung hinweisen könnten.

 

Tatsächlich werden Antikoagulanzien häufig bei Personen mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Vorhofflimmern oder Thrombose-Risiko verordnet – allesamt Faktoren, die auch das Risiko für einen schweren COVID-Verlauf oder Folgekomplikationen erhöhen können. Die Autoren selbst betonen daher, dass ihre Ergebnisse zwar statistisch signifikant, aber nicht kausal zu verstehen sind.

 

Was offen bleibt – und was nötig ist

 

Wie bei vielen retrospektiven Studien gilt: Die Datenlage bleibt begrenzt. Wichtige Einflussgrößen wie die konkrete Dosis der Medikamente oder nicht dokumentierte Symptome könnten das Ergebnis verzerren. Zudem bleibt die Definition von Long COVID uneinheitlich – was Vergleiche zwischen Studien zusätzlich erschwert.

 

Gleichwohl unterstreicht die Analyse einen zentralen Punkt: Die Pathomechanismen von Long COVID sind komplexer als bisher angenommen. In mechanistischen Untersuchungen wurden bei Betroffenen mikroskopische Fibrinablagerungen – sogenannte Mikroklots – festgestellt, die sich nur schwer abbauen lassen. Ob gezielte antithrombotische Kombinationstherapien hier Abhilfe schaffen könnten, ist bislang ungeklärt.

 

Fazit: Keine voreiligen Hoffnungen

 

Die Hoffnung, Long COVID durch bereits verabreichte Blutverdünner zu verhindern, hat mit dieser Studie einen deutlichen Dämpfer erhalten. Vielmehr zeigt sich: Die Wahl der richtigen Therapie erfordert eine tiefere Kenntnis der zugrunde liegenden Krankheitsprozesse – und eine klare Abgrenzung zwischen Korrelation und Kausalität.

 

Was nun dringend gebraucht wird, sind prospektive, randomisierte Studien, die gezielt prüfen, ob und wie Antikoagulanzien in der Behandlung oder Prävention von Long COVID sinnvoll eingesetzt werden können. Bis dahin bleibt Vorsicht bei therapeutischen Schlussfolgerungen aus Beobachtungsdaten angebracht.

 

 

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