
DMZ – POLITIK ¦ Stefan Hemler ¦
KOMMENTAR
Taktische Überlegungen zur Bundestagswahl, bei der das Abschneiden der kleinen Parteien entscheidend für eine stabile Regierungsbildung sein könnte
Selten war die politische Lage in Deutschland vor einer Bundestagswahl so unübersichtlich wie vor dem 23. Februar 2025. Zugleich wird angesichts einer sich immer mehr verdüsternden Weltlage der Urnengang in der stärksten Volkswirtschaft Europas wohl nicht ganz zu Unrecht auch als eine Art Schicksalswahl gesehen. Die Entscheidung, wo man denn nun sein Kreuzchen macht, kann dabei sowohl auf politischen Überzeugungen wie auch wahltaktischen Überlegungen basieren – hierzu allgemeine Gedanken sowie eine persönliche Wahlempfehlung.
Geben Sie Ihre Stimme bei Wahlen aus Überzeugung ab oder wählen Sie strategisch? Für alle, die sich politisch im Spektrum der Mitte oder weiter links verorten, aber nicht nur aufgrund einer programmatisch begründeten Parteipräferenz, sondern auch aus wahltaktischen Überlegungen ihre Stimme abgeben, hat Anfang des Monats Krautreporterin Lea Schönborn einen lesenswerten Text verfasst. Paywallfrei lässt er sich unter folgendem Link abrufen:
Schönborn spielt in ihrem Krautreporter-Beitrag unter dem Titel „Das musst du wählen, um Merz als Kanzler zu verhindern“ unter Berücksichtigung unterschiedlicher persönlicher Prämissen verschiedene Optionen durch, aus denen sie taktische Wahlempfehlungen für die Erst- und Zweitstimme für SPD, Grüne, Linke, FDP, die Union oder Volt ableitet. Da die sich stabilisierenden Wahlumfragen Schönborns Artikelüberschrift inzwischen aber schon fast veraltet erscheinen lassen, möchte ich daran nun mit weiteren Überlegungen quasi als Artikel-Update anknüpfen.
Tweetministerin: #PleaseSchwächeFDP
Aus dem Scheitern der Ampel ergeben sich zunächst für mich zwei wichtige Lehren, die Mitte-Links-Wähler:innen bei der Bundestagswahl 2025 berücksichtigen sollten:
1. Eine lagerübergreifende Dreier-Koalition birgt derzeit auf der Bundesebene zu viel Konfliktpotential in sich.
2. Anders als die Liberalen vor zwanzig Jahren ist die neoliberal-libertäre Lindner-FDP der Gegenwart inzwischen in der Bundespolitik kaum noch kompromiss- und koalitionsfähig.
Die von Lindner propagierte "Deutschland-Koalition" aus Union, SPD und FDP wäre insofern eine Neuauflage des lähmenden Ampelgezänks, nun unter einem dauerpolternden Kanzler Merz und mit der SPD in der undankbaren Grünen-Rolle des Koalitions-Buhmanns. Das kann sich niemand wünschen - außer vielleicht Satiriker:innen wie die auf X und Bluesky sich mit ihren beiden neoliberalen Parodie-Accounts wachsender Beliebtheit erfreuende „Tweetministerin“ (https://bsky.app/profile/tweetministerin.bsky.social/post/3lglrjnpjt22f).
Ein Ampel-Revival in Sachen unseliger Streitkultur wäre wohl ebenfalls bei einem Koalitionsbündnis zu erwarten, dass das in den letzten Monaten von internen Grabenkämpfen gebeutelte Bündnis Sahra Wagenknecht miteinzubeziehen versucht. Selbst auf Länderebene gestalteten sich letztes Jahr Koalitionsbildungen in Thüringen und Brandenburg mit dem BSW, das sich 2023 von der Linkspartei abgespalten hatte, äußerst schwierig. In Sachsen scheiterten sie gänzlich. Auf Bundesebene würde die streitlustige Parteigründerin höchstselbst nun aktiv mitmischen und dabei wohl besonders bei außenpolitischen Fragen Deutschland mit ihrer kompromisslosen Mixtur aus altlinken und russlandfreundlichen Positionen lahmlegen. Das können wir uns in diesen weltpolitisch stürmischen Zeiten aber wirklich nicht leisten.
Bundestags-Rechenspiel: Wie vernünftig koalieren bei fünf, sechs oder gar sieben Parlamentsfraktionen?
In den Wahlumfragen liegt die Union seit Wochen relativ stabil bei etwa dreißig Prozent, die SPD pendelt um die 15-Prozent-Marke, und die Grünen stagnieren ein bis zwei Prozentpunkte hinter den Sozialdemokraten. Deutlich vor den beiden aktuell verbliebenen Regierungsparteien der zerbrochenen Ampel, nämlich bei knapp über zwanzig Prozent, liegt die rechtsradikale AfD, mit der Unions-Kanzlerkandidat Merz nach dem Platzen seines Testballons – zwei gemeinsamen schwarz-blaue Abstimmungen zur Migrationspolitik im Bundestag Ende Januar, die jedoch eine heftige landesweite Protestwelle provozierten – nun eine Zusammenarbeit fürs Erste doch auszuschließen scheint. Als fünfte Partei wird es wohl auch die Linke nach ihrer furiosen Aufholjagd im Februar nun mit gut sechs Prozent und dazu wohl mehr als drei gewonnenen Direktmandaten fast sicher wieder in den Bundestag schaffen. Hingegen deuten bei der FDP wie auch beim BSW die Umfragen eher darauf hin, dass beide knapp an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern könnten (https://www.wahlrecht.de/umfragen/).
Sofern die aktuellen Umfragen also nicht ganz daneben liegen, bleiben als realistisch denkbare Zweier-Koalitionen so nur Schwarz-Grün oder Schwarz-Rot, wobei es in beiden Konstellationen für eine Bundestagsmehrheit mit voraussichtlich etwa 43 bis 45 Prozent der Wählerstimmen aber nur reichen dürfte, sofern eben BSW und FDP wirklich unter fünf Prozent bleiben. Außerdem dürfen die AfD sowie die Linke nicht zu stark werden, d.h. sie müssen zusammen bei deutlich unter 30 Prozent liegen.
Würde die FDP aber doch noch ins Parlament kommen, wäre Schwarz-Gelb als Zweier-Koalitionsoption mit rund 35 Prozent von einer Mehrheit ähnlich weit entfernt wie das aufgrund der außenpolitischen Ziele der Linkspartei nur mit sehr, sehr viel Fantasie vorstellbare, links von der Mitte angesiedelte R2G-Dreierbündnis aus SPD, Linkspartei und Grünen, das sich aber eigentlich niemand ernsthaft wünschen kann, dem das Schicksal der Ukraine nicht gleichgültig ist.
Für Schwarz-Grün bräuchte es zur Kontrolle von Merz und Söder ein starkes Abschneiden von Bündnis 90/Die Grünen
Taktische Wähler:innen, die Einfluss darauf nehmen möchte, dass es zu einer halbwegs funktionierenden Regierungsbildung aus zwei Parteien kommen kann, sollten sich bei ihrem Kreuz deshalb also besser zwischen CDU/CSU, SPD oder Bündnis 90/Die Grünen entscheiden und sich dabei die Frage stellen, wem sie mit ihrer Stimme in einer der beiden wahrscheinlichen Zweier-Koalitionen ein größeres Gewicht geben möchten.
Meine Entscheidung ist hier am Sonntag klar: In einer schwarz-grünen Bundesregierung, die ich als Koalition präferieren würde, bräuchte es starke, selbstbewusste Grüne, am besten mit mehr als 15 Prozent noch vor der SPD platziert.
Bei der Alternative Schwarz-Rot – inzwischen ja prozentual längst keine „Groko“ mehr – traue ich der SPD in ihrer derzeitigen Verfassung einfach nicht mehr zu, bei entscheidenden politischen Streitfragen wie etwa beim Klimaschutz oder der Einhaltung der Menschenrechte in der Migrationspolitik ein ausreichend standfestes Gegenwicht zur neoliberal eingefärbten Merz-CDU und der mit rechtspopulistischen Parolen liebäugelnden Söder-CSU zu sein. Und in der Außenpolitik könnten die beiden russlandfreundlichen Flügel der schwarz-roten Koalitionäre am Ende gar gemeinsam einen Kanzler Merz in seinem Bestreben ausbremsen, bei der europäischen Ukraine-Unterstützung endlich mutiger als Amtsvorgänger Scholz gemeinsam mit Briten und Franzosen voranzuschreiten.
Aus meiner Überzeugung sprechen aber natürlich nicht nur wahltaktische Überlegungen dafür, bei dieser Bundestagswahl den Grünen die Stimme zu geben. Derzeit gerade aktuelle politische Themen sind in einer Vielzahl von Wahlsendungsformaten zwar ausgiebig diskutiert worden, doch leider drängte die allgegenwärtige, von rechts stetig angefachte Migrationsdebatte dabei viele andere wichtige Zukunftsthemen oft in den Hintergrund. Dazu gehört sicherlich auch eine mir besonders am Herzen liegende Frage, nämlich inwieweit wir als Gesellschaft aus den Erfahrungen der Corona-Pandemie etwas lernen können.
Lernen aus der Pandemie wollen bislang nur die Grünen - und ein wenig auch die Linken
Welche Schlüsse in Sachen Public Health ziehen wir aber nun aus der 2020 ausgebrochenen Corona-Pandemie, die laut WHO zwar seit 2023 keine gesundheitliche Notlage internationaler Tragweite darstellt, aber leider auch nach fünf Jahren mit ihren weltweit wiederkehrender Infektionswellen immer noch nicht beendet ist? Hierzu finden sich unter den Parteien, die Chancen auf einen Einzug in den Bundestag haben, nach meiner Kenntnis nur bei den Linken und den Grünen erwähnenswerte Statements. Im Wahlprogramm der Linkspartei steht im Kapitel zur Gesundheitspolitik allerdings leider nur ein einziger, etwas vage formulierter Satz, der folgendermaßen lautet:
„Wir wollen auf Basis wissenschaftlicher Evidenz Lehren aus der Corona-Pandemie für die Gesundheitsförderung und den Infektionsschutz ziehen, zum Beispiel zu sauberer Luft in Innenräumen.“ (https://www.die-linke.de/bundestagswahl-2025/wahlprogramm/)
Wesentlich ergiebiger sind hingegen die pandemiepolitisch relevanten Ausführungen im Abschnitt „Für eine vorausschauende Gesundheitspolitik“ des Bundestagswahlprogramms von Bündnis 90/Die Grünen, die dort auf den Seiten 95 und 96 nachzulesen sind:
„Und wir wollen die Atemluftreinheit im Außenbereich und in Innenräumen verbessern. Maßnahmen zur Luftreinhaltung in Innenräumen von öffentlichen Gebäuden, insbesondere in Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen, sind ein wichtiger Teil des aktiven Gesundheitsschutzes. (…) Wir wollen unser Gesundheitswesen durch ein Gesundheitssicherstellungsgesetz auf Epidemien, Pandemien, große Katastrophen und militärische Bedrohungen besser vorbereiten. Das betrifft zum Beispiel Prävention durch Lufthygiene, Aufklärung und Aufbau eines zuverlässigen und dauerhaften Monitorings, den Vorrat an Arzneimitteln und Medizinprodukten sowie regelmäßige Katastrophenschutzübungen.“ (https://cms.gruene.de/uploads/assets/Regierungsprogramm_DIGITAL_DINA5.pdf)
Lesson learned, liebe Grüne! Dann hoffe ich nun endlich, fünf Jahre nach Pandemieausbruch, doch noch auf eine baldige Umsetzung einer vernünftigen Clean Air Policy in einer neuen Regierung – diesmal hoffentlich ohne die gerade auch bei diesem Thema dauerbremsende FDP.

Die Tweetministerin steht am 23.2. in Deutschland zwar nicht zur Wahl, aber ihr satirischer Account karikiert seit über zwei Jahr auf Twitter wie auch inzwischen auf Bluesky gekonnt neoliberale Politphrasendrescherei – wie hier mit der ironischen Nachahmung eines Wahlaufrufs der FDP, der im Januar in der FAZ als großformatige Anzeige erschienen ist und von FDP-Politiker:innen auch auf Social Media verbreitet wurde (https://x.com/tweetministerin/status/1883253488622391712; https://x.com/MarcoBuschmann/status/1882690956530753582).
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