DMZ – SOZIALES/LEBEN ¦ D. Aebischer ¦
Die Frage nach dem Wohlergehen und den Bedürfnissen von Kindern und jungen Erwachsenen in vulnerablen Situationen ist von zentraler Bedeutung für die Gesellschaft. Eine aktuelle Umfrage von SOS-Kinderdorf Schweiz gibt Einblicke in die Wahrnehmung dieser Thematik innerhalb der Schweizer Bevölkerung. Im Rahmen eines Interviews mit dem Geschäftsführer von SOS-Kinderdorf Schweiz, Alex de Geus, wurden die Ergebnisse und Hintergründe dieser Umfrage näher beleuchtet.
Wie wurde die Umfrage durchgeführt und sichergestellt, dass sie repräsentativ für die gesamte Schweizer Bevölkerung ist?
Die Umfrage «Wahrnehmung der Bedürfnisse von Kindern und jungen Erwachsenen in vulnerablen Situationen in der Schweiz – April 2024» wurde von SOS-Kinderdorf Schweiz im April 2024 mit Unterstützung des Meinungsforschungsinstituts MIS Trend durchgeführt.
Befragt wurden 1'623 Personen ab 18 Jahren, darunter 639 Personen aus der Westschweiz und 984 Personen aus der Deutschschweiz. Diese repräsentative Stichprobe ermöglicht eine hohe statistische Zuverlässigkeit der Ergebnisse mit einer maximalen Fehlerquote von +/- 2.4% (+/-3% für die Stichprobe in der Romandie und +/-1.9% in der Deutschschweiz). Um die demografische Repräsentierbarkeit zu wahren, erfolgte eine entsprechende Gewichtung der Daten.
Welche spezifischen Kriterien wurden verwendet, um "vulnerable Situationen" zu definieren?
Eine vulnerable Situation wird hier definiert als die Tatsache, dass das Wohlergehen von Kindern und jungen Erwachsenen durch einen oder mehrere Risikofaktoren wie Armut, schlechte Wohnverhältnisse, mangelnde Fürsorge oder Schutz durch Erwachsene, Diskriminierung, Gewalt u. a. gefährdet ist.
Was sind Ihrer Meinung nach die Hauptgründe dafür, dass die Deutschschweizer Bevölkerung die Situation gefährdeter Kinder als weniger gravierend einstuft als die Westschweizer?
Wir können nur Vermutungen anstellen. Möglicherweise hängt dies mit kulturellen und/oder politischen Gründen zusammen. Im Allgemeinen neigt die Westschweiz dazu, sich politisch etwas linker einzustufen als die deutschsprachige Schweiz, die liberaler ist.
Außerdem wurde dieses Thema in den Westschweizer Medien, insbesondere in den Kantonen Neuenburg und Waadt, in letzter Zeit angesprochen und von beiden Kantonen auf die politische Agenda gesetzt. Daher könnten die Westschweizer für diese Frage stärker sensibilisiert sein.
Wie erklären Sie die Diskrepanz zwischen der allgemeinen Zufriedenheit mit der Einhaltung der Kinderrechte und der gleichzeitig geäußerten Besorgnis über die spezifischen Schutzdefizite im digitalen Raum?
Die Schweiz genießt ein positives Image in Bezug auf Menschenrechte, was die Wahrnehmung der Öffentlichkeit hinsichtlich der Einhaltung der Kinderrechte im Land beeinflussen kann. Mit der Ratifizierung der UN-Kinderrechtskonvention hat die Schweiz ein solides rechtliches Rahmenwerk geschaffen. Darüber hinaus genießt das Land eines der weltweit höchsten Vertrauensniveaus der Schweizer Bürgerinnen und Bürger in ihre politischen Institutionen.
Zwei Drittel der Befragten sind aber tatsächlich der Meinung, dass die Kinderrechte im Internet nicht ausreichend geachtet werden. Das ist eine sehr besorgniserregende Feststellung. Das "Sharenting", also das Veröffentlichen von Fotos seiner Kinder in sozialen Netzwerken, wird von den Befragten unserer Umfrage besonders kritisch gesehen. Dabei handelt es sich um eine sehr verbreitete Praxis. Wir müssen Eltern stärker auf die damit verbundenen Gefahren aufmerksam machen. Es bleibt viel zu tun, um sicherzustellen, dass Minderjährige im digitalen Raum besser geschützt sind.
Welche spezifischen Maßnahmen halten Sie für notwendig, um die als unzureichend empfundenen Unterstützungsmöglichkeiten der Behörden zu verbessern?
Jede Maßnahme, die das familiäre Umfeld stärkt und Rahmenbedingungen schafft, um ein behütetes Aufwachsen zu ermöglichen, trägt zur Verbesserung der Situation bei. Denn um sich zu entwickeln und aufzuwachsen, brauchen Kinder sichere und bereichernde Beziehungen zu den Menschen, die sich um sie kümmern.
Dies kann erreicht werden durch die Stärkung von Familienförderungsmaßnahmen, einen besseren Zugang zu Wohnraum, eine Stärkung des Kinderschutzes, strengere Regulierung des digitalen Raums und eine bessere Koordination der Akteure, die in den Schutz von Kindern und Familien involviert sind.
Wie bewerten Sie die aktuellen Bemühungen der Behörden im Bereich Kinderschutz und welche konkreten Verbesserungen schlagen Sie vor?
Die Frage nach der Effektivität der aktuellen Politik und Programme zur Unterstützung von Menschen in Not in der Schweiz muss gestellt werden.
Die jüngsten Initiativen einiger Kantone, wie der 80-Millionen-Franken-Plan des Kantons Waadt für den Kinderschutz, weisen darauf hin, dass die Herausforderung von Politikerinnen und Politikern zunehmend erkannt wird, was positiv ist.
Trotz dieser Initiativen bleibt jedoch noch viel zu tun, um Kindern und jungen Erwachsenen ein sicheres und fürsorgliches Umfeld zu bieten, in dem sie unter guten Bedingungen aufwachsen können. Die Covid-Krise hat die Situation verschärft, und die UNO hat die Schweiz in ihrem Bericht von 2021 mit Blick auf den Schutz der Kinderrechte in die Pflicht genommen.
Was sind die langfristigen Ziele von SOS-Kinderdorf Schweiz in Bezug auf die Unterstützung von Kindern und jungen Erwachsenen in vulnerablen Situationen?
SOS-Kinderdorf Schweiz engagiert sich seit 60 Jahren weltweit für Kinder und Familien in Not. Wir setzen uns grundsätzlich zunächst dafür ein, dass Kinder in der Ursprungsfamilie bzw. -gemeinde bleiben können. Dazu bieten wir in unseren Familienstärkungsprogrammen auch Beratung und Begleitung an, um elterliche Fähigkeiten zu stärken und die Trennung der Familie zu verhindern. Nur wenn es nicht möglich ist, eine Familie so zu stärken, dass das Kind dort gesund und sicher aufwächst, kommt es in ein SOS-Kinderdorf.
Unsere SOS-Kinderdörfer bieten ein stabiles familiäres Umfeld, in dem Kinder aufwachsen und sich entfalten können und eine Chance auf eine selbstbestimmte Zukunft haben.
Durch die Entwicklung innovativer Programme begleiten wir auch junge Menschen auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben, die in Pflegefamilien aufgewachsen sind. Das ist genau das Ziel unseres Pilotprojekts CAREer, das seit 2023 im Kanton Bern läuft. Ziel ist es, es 2025 landesweit einzuführen.
Wie stellen Sie sicher, dass Ihre Projekte nachhaltig sind und langfristig positive Auswirkungen haben?
Eine weltweit tätige Organisation wie SOS-Kinderdorf muss sich ständig an veränderte Bedingungen anpassen, um auf die Bedürfnisse der jeweiligen Gesellschaft zu reagieren und neue Herausforderungen im Interesse des Wohlergehens der Kinder anzunehmen. Deshalb fördern wir vermehrt gemeindebasierte Familienstärkungsprogramme. Diese Programme befähigen Eltern, ihre lokalen Gemeinschaften zu mobilisieren, um für ihre Kinder zu sorgen, und stellen sicher, dass sie in Notlagen von den Behörden oder Selbsthilfe-Netzwerken unterstützt werden.
Gemeinsam mit den Familien, den Behörden und weiteren lokalen Partnern legen wir Entwicklungsziele fest. Wir evaluieren, welche Ressourcen bereits vorhanden sind und wo noch Unterstützung benötigt wird. Unser Ziel ist es, dass die Familien sowie die lokalen Gemeinschaften nach drei bis maximal zwölf Jahren keine Hilfe mehr benötigen.
Dies erreichen wir, indem wir Mitarbeitende von Sozialdiensten im Fallmanagement ausbilden, Mitglieder von Spar- und Leih-Kooperativen in Betriebswirtschaft unterrichten oder Schulen sanieren. Zudem unterstützen wir Eltern dabei, ein Mikrounternehmen zu führen, und ermöglichen Jugendlichen eine praxisorientierte Berufsausbildung. Dadurch können Familien wirtschaftlich auf eigenen Beinen stehen und gut für ihre Kinder sorgen. Außerdem stärken wir Kinderschutz-Netzwerke, die sich um Kinder kümmern, die vernachlässigt, ausgebeutet oder misshandelt wurden.
Wie arbeiten Sie mit anderen NGOs, Regierungsorganisationen und der Privatwirtschaft zusammen, um die Lebenssituation von gefährdeten Kindern und Jugendlichen zu verbessern?
Bei den Projekten in unseren fünf Fokusländern Äthiopien, Niger, Lesotho, Nicaragua und Nepal arbeiten wir eng mit lokalen Organisationen zusammen und verfolgen dabei einen ergebnisorientierten Ansatz, bei dem wir die Entwicklung laufend überprüfen. Alle unsere Familienstärkungsprogramme sind stark in der lokalen Community verankert und werden von erfahrenen Programm-Koordinatorinnen und -koordinatoren begleitet, denen die betroffenen Menschen vertrauen. In Ländern wie beispielsweise Nicaragua, wo nur sehr wenige NGOs überhaupt tätig sein dürfen und nur wenige Organisationen Zugang haben, setzen wir unsere Programme in enger Zusammenarbeit mit der Regierung um. Bei der Katastrophenhilfe oder in Krisenregionen, wie beispielsweise während des Bürgerkriegs in Äthiopien, war der Zugang und der Transport von Hilfsmitteln oft nur in Koordination mit anderen NGOs möglich. Es sind somit viele Partner nötig, damit Projekte wirkungsvoll umgesetzt werden können.
In der Schweiz haben wir mit CAREer ein Pilotprojekt im Kanton Bern lanciert, um das erste eigene Programm in der Schweiz aufzubauen. CAREer zielt darauf ab, die Chancengleichheit, Arbeitsfähigkeit und Eigenständigkeit von Careleaver:innen und jungen Erwachsenen mit Unterstützungsbedarf zu fördern. Der Fokus von CAREer liegt auf der Begleitung im Übergang in die Arbeitswelt und der Finanzierung von Bildungsprojekten. Dank der Kooperation mit Unternehmenspartnern erhalten Teilnehmende Einblicke in verschiedene Berufsfelder sowie individuelle Unterstützung bei der beruflichen Entwicklung. Das Pilotprojekt CAREer läuft noch bis Ende 2024 im Kanton Bern. Nach dessen Abschluss wird eine umfassende Bilanz gezogen, um die Erfahrungen und Erkenntnisse für die Weiterentwicklung des Angebots und die Einführung des Schweizer Programms zu nutzen.
Welche Unterstützung erwarten Sie von der Öffentlichkeit und wie können Einzelpersonen oder Unternehmen konkret beitragen?
Als gemeinnützige Stiftung sind wir auf Spenden angewiesen. Um unsere Anliegen bekannt zu machen, können wir auf die Unterstützung verschiedener Partnern und Botschafter:innen zählen. Unternehmenspartner ermöglichen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern unseres CAREer-Programms wertvolle Einblicke in die Arbeitswelt. Zudem kooperieren wir in der Projektarbeit mit Stiftungen und Unternehmen, die konkrete Projekte strategisch und finanziell fördern. Interessierte sind herzlich eingeladen, uns am 22. Juni in Bern auf dem Waisenhausplatz zu besuchen und an unserem Familientag mehr über unsere Arbeit zu erfahren.