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GASTKOMMENTAR von Iván T. Berend
Nachdem ich seit vielen Jahren in Kalifornien lebe, suche ich – wie viele meiner Freunde in Europa - nach einer Antwort auf die Frage, warum die bigotteste amerikanische Religionsgemeinschaft, die sogenannten Evangelikalen, seit 2016 als Phalanx hinter einem Mann wie Donald Trump steht, der nicht nur ungläubig, sondern darüber hinaus ein notorischer Lügner ist, der nur auf seine eigenen Interessen achtet.
Ein aktuelles Beispiel: Wenige Tage vor Ostern hat Donald Trump den Verkauf von seinem „Lieblingsbuch“, einer von ihm geförderten Bibel, für $ 59.99 beworben. Grundlage ist die Zusammenarbeit mit dem Musiker Lee Greenwood, dessen Hit „God Bless the USA“ (Gott segne die USA) auf jeder Trump-Wahlkampfveranstaltung gespielt wird.
Wie konnte Trump im Jahr 2016 81 Prozent der Stimmen der weißen evangelikalen Christen gewinnen? Warum wurde genau dieser Immobilienhai für sie zu einer Art Messias, der gegen den Satan kämpft – in ihren Augen übrigens von Barack Obama verkörpert, galt doch Obama als heimlicher muslimischer Extremist? Schon damals schreckten sie nicht vor den wildesten Lügen zurück. Michelle Obama, die ehemalige First Lady, wurde Michael Obama genannt. Es wurde behauptet, sie sei tatsächlich ein Mann. Während Bidens Präsidentschaft verkündete ein evangelikaler Prediger von der Kanzel: „im Weißen Haus sitzt der selbstsüchtige, vergreiste Joe Biden, der nicht mehr weiß, was er tut.“ Dann machte er eine kleine Pause und fuhr fort: „Natürlich weiß er es, denn er ist das Böse schlechthin“.
Wie kam es dazu?
In den USA unterscheiden evangelikale Christen sich von anderen christlichen Religionen dadurch, dass ihre Anhänger die Zugehörigkeit zu ihrer Religion durch einen Akt der Wiedergeburt erklären. Pfingstler, Methodisten, Calvinisten und Evangelikale gingen aus den Protestanten hervor, die sich damals von der katholischen Kirche lösten und von den 1980er Jahren an zu weißen konservativen Republikanern wurden. Sie lehnten die Trennung von Religion und Politik entschieden ab. Sie verkündeten, dass die Gründerväter ein christliches Land schaffen wollten. Die Ansicht, Religion und Politik sollten sich nicht vermischen, käme vom Teufel, der so verhindern wolle, dass Christen das Land regieren.
Im Zuge der Säkularisierung wurde ab 1962 das Gebet an öffentlichen Schulen verboten. Die Legalisierung der Abtreibung im Jahr 1973 führte dann zu einem echten Wendepunkt. Religiöse Extremisten forderten deswegen ein Verbot öffentlicher Schulen. In den 1990er Jahren wurde für sie Christsein zum Synonym für ein Votum für die Republikanische Partei. Statistiken zeigen, dass die Religion rasant in den Hintergrund geraten ist. Dadurch wurde erstaunlicherweise diese gesteigerte politisch/religiöse Selbstbestimmung sogar noch verstärkt.
Laut einer Umfrage aus dem Jahr 1972 glaubten damals mehr als 90 Prozent der Amerikaner an Gott, und nur 9 Prozent waren noch nie in einer Kirche; Im Jahr 2022 stieg der Anteil letzterer jedoch sprunghaft auf 33 Prozent an.
Allein im Jahr 2019 wurden über viereinhalbtausend protestantische Gotteshäuser geschlossen. Auch die Evangelikalen machten da keine Ausnahme.
Aus Religion ist politischer Glaube geworden.
Evangelikalen ist es nunmehr egal, ob ihr Lieblingskandidat eine biblische Weltanschauung hat. Demut, Frieden und Nächstenliebe sind für sie zweitrangig. Nur die Macht zählt.
Im Jahr 2011 stellte eine religiöse Institution die Frage, ob ein Politiker, der sich in seinem Privatleben unmoralisch verhält, in seiner öffentlichen Arbeit glaubwürdig sein kann. Von allen Religionsgruppen hatten weiße Evangelikale mit 30 Prozent den geringsten Zustimmungsprozentsatz. 2016 wiederholte dieselbe Institution den Test und dann antworteten schockierender Weise 72 Prozent der Evangelikalen mit Ja. Dies war die höchste Rate unter allen religiösen Gruppen.
Nach Jahren der Präsidentschaft Obamas fühlten sie sich angegriffen. Sie sahen sich selbst als die am stärksten diskriminierte Religionsgruppe, stärker als die der Muslime. Ein so großer Meinungsumschwung innerhalb von nur fünf Jahren ist eigentlich ein Wunder - oder auch nicht. Die Evangelikalen akzeptierten und betrachteten Trump einfach als ihren eigenen Kandidaten, dessen gravierende Charakterfehler nicht zu übersehen waren, doch sie glaubten und glauben heute noch, dass er ihren politischen Zielen am besten dient.
Politik ist damit zur Ersatzreligion geworden.
Das alles hat vieles erklärt. Dennoch kann ich nicht behaupten, alles verstanden zu haben Die amerikanische Politik ist ins Reich der Absurdität abgedriftet. Absurdität ist aber nicht rational, weshalb sie schwer zu verstehen ist. Die jüngere Generation der USA will sie nicht einmal mehr verstehen, sie wendet sich von ihr ab.
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