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Von der Dunkelheit ins Licht: Die Geschichte von Thomas Müller und die Revolution der Autoimmun-Psychoseforschung

DMZ – WISSENSCHAFT ¦ Anton Aeberhard ¦

 

Heute berichten wir über eine beeindruckende und bewegende Geschichte, die ursprünglich auf Science.org veröffentlicht wurde. Diese Geschichte beleuchtet das Leben von Thomas Müller*, einem deutschen Psychiater, dessen Leben durch die Entdeckung und Behandlung einer seltenen autoimmunen Gehirnerkrankung dramatisch verändert wurde. Die Fortschritte in der Autoimmun-Psychoseforschung haben nicht nur sein Leben gerettet, sondern auch das Potenzial, die Psychiatrie grundlegend zu revolutionieren.

 

Thomas Müller lebte bis 2012 ein erfülltes Leben in der Stadt Lahr, nahe der französischen Grenze. Neben seiner Arbeit als Psychiater widmete er sich leidenschaftlich der Malerei und war ein begeisterter Leser der Werke von Philip K. Dick und H. P. Lovecraft. Doch plötzlich wurde sein Leben durch eine schwere Depression erschüttert. Diese machte es ihm unmöglich, sich auf das Lesen zu konzentrieren, und er litt unter Schlaflosigkeit sowie Gedächtnisstörungen. „Ich konnte nächtelang nicht schlafen und wanderte rastlos umher“, erinnert sich Müller. Dunkle Gedanken bestimmten seine Tage, und er sah keinen Ausweg mehr.

 

Sein Zustand verschlechterte sich zunehmend. Nach mehreren Fehldiagnosen, darunter Schizophrenie und Wahnvorstellungen, wurde er wochenlang in psychiatrischen Kliniken behandelt, oft gegen seinen Willen. 2017 entwickelte er einen unstillbaren Durst, der ihn zwang, bis zu 15 Liter Flüssigkeit täglich zu trinken. Er zog zurück zu seinen Eltern und verbrachte seine Tage weinend im Bett, in der ständigen Angst zu sterben.

 

Der Wendepunkt in Müllers Leben kam 2019, als seine Tante auf einen Artikel über Ludger Tebartz van Elst stieß. Dieser Neuropsychiater an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg beschäftigte sich intensiv mit autoimmunbedingten Psychosen. Müller suchte ihn auf, und im August desselben Jahres wurde in seinem Blutserum ein spezieller Antikörper nachgewiesen, der auf eine autoimmune Gehirnerkrankung hinwies: die anti-leucin-reiche Glioma-inaktivierte 1 (anti-LGI1) Enzephalitis. Die Behandlung mit hochdosiertem intravenösem Kortison begann, doch zunächst zeigten sich kaum Besserungen. Erst nach einer zweiten Behandlung im Jahr 2020 setzten erste Erfolge ein, und im Herbst 2021 war Müller auf dem Weg der Besserung.

 

In den letzten 15 Jahren haben Forscher weltweit 18 verschiedene Krankheiten identifiziert, die durch eine Immunreaktion gegen das Gehirn ausgelöst werden und sowohl neurologische als auch psychotische Symptome hervorrufen können. Diese autoimmunen Gehirnentzündungen, auch Enzephalitiden genannt, entstehen, wenn Antikörper gegen das eigene Gehirn gerichtet sind. Sie können aus dem Gehirn selbst stammen oder aus dem Blutkreislauf eindringen, sich an Neuronen binden und entzündliche Prozesse auslösen.

 

„Das sind keine neuen Krankheiten“, erklärt Belinda Lennox, Psychiaterin an der Universität Oxford. Bevor die Antikörper entdeckt wurden, starben viele Betroffene auf Intensivstationen oder wurden fälschlicherweise in psychiatrischen Anstalten behandelt, manche sogar exorziert. „Man kann von einem Tag auf den anderen psychotisch werden, und das ist erschreckend“, sagt Stacey Clardy, Neuroimmunologin an der Universität von Utah.

 

Seit der Entdeckung der ersten Form der autoimmunen Enzephalitis im Jahr 2007 arbeiten Psychiater und Neurologen zunehmend zusammen, um betroffene Patienten zu diagnostizieren und zu behandeln. Forschungszentren und Kliniken haben sich in Europa und den USA etabliert, um diese Patienten zu versorgen. Wissenschaftler an der Columbia University planen, Patienten im staatlichen psychiatrischen System von New York auf Autoantikörper zu untersuchen, um bisher unerkannt gebliebene Autoimmunerkrankungen aufzudecken.

 

Obwohl die tatsächliche Häufigkeit autoimmuner Enzephalitiden unbekannt ist, vermuten Forscher, dass nur ein kleiner Bruchteil der Psychosefälle auf Autoantikörper zurückzuführen ist. Dennoch zeigen Patienten, die mit immunmodulierenden Therapien behandelt werden, oft bemerkenswerte Erholungen. Dies wurde durch Susannah Cahalans Buch „Brain on Fire: My Month of Madness“ populär, in dem sie ihre eigene Erfahrung mit autoimmuner Enzephalitis beschreibt.

 

Forscher untersuchen nun, ob fehlgeleitete Antikörper auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie Zwangsstörungen und Depressionen eine Rolle spielen könnten. Tebartz van Elst glaubt, dass diese Forschung die klinische Psychiatrie revolutionieren könnte, auch wenn noch viel Arbeit nötig ist, um die genaue Rolle der Antikörper im Krankheitsprozess zu verstehen.

 

N. BURGESS/SCIENCE
N. BURGESS/SCIENCE

Die Geschichte von Thomas Müller ist ein eindrucksvolles Beispiel für die Herausforderungen und Fortschritte in diesem aufstrebenden Forschungsgebiet. Trotz der Schwierigkeiten und Rückschläge hat die Entdeckung der autoimmunen Enzephalitis und die darauf aufbauenden Behandlungen vielen Patienten neue Hoffnung und Lebensqualität gegeben. Müllers Leben hat wieder an Bedeutung gewonnen, und er kann sich wieder den Dingen widmen, die ihm Freude bereiten – ein Zeichen dafür, dass wissenschaftliche Entdeckungen und medizinische Innovationen tiefgreifende Auswirkungen auf das Leben der Menschen haben können.

 

 

> Zum Originalartikel

 

*Alle in dieser Geschichte genannten Patienten wurden aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes mit Pseudonymen versehen.


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