DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦
KOMMENTAR
Der Weibel ist nicht an sich eine typisch schweizerische Berufsgattung, wohl aber ist die Bezeichnung dafür typisch schweizerisch. Sie steht für das bundesdeutsche «Amtsdiener», der der Regierung, dem Parlament oder Gerichten für Saal- oder Botengänge und weitere Amtsdienste unterstützend zur Verfügung steht und dabei – solange in offizieller Mission – in historische Amtstrachten gewandet ist.
Dieser Tage gab sich Bundesbern wieder einmal alle Mühe, dem Publikum das entsprechende Spektakel vor Augen zu führen. Es wurde geweibelt, was das Zeug hielt. Der Sog von Davos – das WEF macht’s möglich – zog internationale Top-Shots der Polit-Prominenz auch nach Bern.
Aber nicht nur die Weibel weibelten. Denn in übertragener Bedeutung heisst das Verb weibeln auch, sich trotz vieler zu bewältigender Anstrengungen für eine Sache besonders ins Zeug zu legen. Erhöhte Schrittkadenz im Falle von Kurzbeinigkeit macht das Weibeln besonders augenfällig, weil dadurch der Einsatz für die Sache vor aller Augen demonstrativ unterstrichen wird. Der ukrainische Staatspräsident Selenski weibelt für Waffen und für eine erhöhte Ernsthaftigkeit bei der Durchsetzung der anti-russischen Sanktionen. Unser Aussenminister Cassis weibelt für Selenski und für Frau von der Leyen, EU-Kommissionspräsidentin. Und unsere Bundespräsidentin Amherd weibelt für Selenski, für Frau von der Leyen und für Herrn Stoltenberg, den NATO-Generalsekretär, den Ursula von der Leyen so gerne im Amt beerben würde. Erhöhte Schrittkadenz aufgrund von Kurzbeinigkeit dürfen wir allen drei Weibelnden ohne Bedenken attestieren.
Während Selenskis Weibeln verständlicherweise klar propagandistisch unterlegt war («Putin ist ein Raubtier»), dienten die Weibelziele der beiden schweizerischen Magistratspersonen der Friedensvermittlung im Ukraine-Krieg. Dafür aber wäre es klug gewesen, sich von der Propaganda Selenskis deutlicher abzugrenzen, sich ihm weniger demonstrativ an die Brust zu werfen, um so etwas wie den Anschein von Neutralität zu waren. Dumm ist überdies, dass man sich vor bald zwei Jahren, bei Kriegsausbruch, als Friedensvermittler bereits mehr oder weniger unmöglich gemacht hat, weil man der einen Konfliktpartei, Russland, durch die Übernahme der von der EU definierten Wirtschaftssanktionen und durch die einseitige Finanzhilfe zugunsten der Ukraine die Tür vor der Nase zugeschlagen hat. Mit anderen Worten: Jetzt kann Cassis weibeln, soviel er will. Ohne glaubhafte Angebote an Russland wird aus seinen ganzen schönen Friedensplänen – wie schön würde sich doch so eine Friedensnobelpreis-Urkunde in der Wohnwand ausnehmen! – gar nix. Da kann man den Chinesen, die man flankierend ins Friedensboot holen möchte, scharwänzeln wie man will. Dem Dreamteams Cassis-Amherd zu internationalem Ruhm zu verhelfen, ist nun wirklich die hinterletzte Sorge, die China umtreibt.
Glaubhafte Angebote an Russland würde aber heißen: Die Schweiz nimmt (ohne Rücksicht auf die EU) die Sanktionen zurück. Die Schweiz anerkennt, dass die Ukraine militärisch den Krieg verloren hat. Die Schweiz anerkennt, dass die Krim und der Donbass russisch bleiben. Und die Schweiz tut dies aus der Überzeugung heraus, dass es, angesichts der bis weit vor 2014 zurückreichenden Vorgeschichte, absolut nicht statthaft ist, Russland die Alleinschuld an diesem Krieg anzuhängen. Und ebenso ist die Schweiz der Auffassung, dass die Abtretung ukrainischer Territorien an Russland nicht unstatthaft wäre, weil die Ukraine seit 2014 die Hälfte der Bevölkerung in den Oblasten Donetsk und Luhansk systematisch unterdrückt, ihnen ihre Sprache geraubt, ja sie mit Bombenterror eingedeckt hat.
So müsste die Schweiz auftreten, dann würde ihre Friedensinitiative wenigstens auf beiden Konfliktseiten Gehör finden. Sie wäre in der Sache realistisch – aber gleichzeitig ebenso chancenlos wie das jetzige Projekt, einfach von der anderen Seite her gedacht. Denn EU und NATO haben bekanntlich beschlossen, sich der Realität zu verweigern. Zu lange hat man der amerikanisch-europäischen Bevölkerung eingetrichtert, Putins Niederlage sei eine Frage der Zeit. Zu lange haben sich die Mainstream-Medien in dieser Hinsicht mitschuldig gemacht, als dass jetzt plötzlich Gegensteuer möglich wäre. Und zu lange hat Europa zugeschaut, wie die amerikanische Waffenindustrie diesen Krieg zum erfolgreichen Geschäftsmodell aufgebaut hat, als dass man sie jetzt plötzlich drängen könnte, darauf zu verzichten. Der Krieg geht nicht weiter, weil sich der Westen noch eine Chance gäbe, ihn zu gewinnen, sondern er geht weiter, damit er weiter geht.
Solche unbequemen Dinge anzusprechen, wäre die Verpflichtung von Neutralen, um diesem sinnlosen Gemetzel ein Ende zu setzen. Was aber soll das Theater, das der Bundesrat derzeit aufführt?
Es sind zwei Dinge. Erstens ist es die reine Liebedienerei gegenüber der EU und gegenüber der NATO, das heißt gegenüber den für die Schweiz relevanten supranationalen Machtinstitutionen. Ihnen gegenüber versuchen Cassis-Amherd sich verdient zu machen, auch wenn in der Sache gar nichts herausschauen wird. Zweitens ist es das Missverständnis, dass die – WEF-bedingte – Nähe zu den Großen den Cassis und Amherds die Verwechslung insinuiert, selber zu Großem berufen zu sein.
Die Folgen sind Pleiten, Pech und Pannen. Für ein Schulterklopfen von Jens Stoltenberg, ein Küsschen von Ursula von der Leyen und das verkniffene Anerkennungsschweigen von Olaf Scholz weibeln sie kurzbeinig mit erhöhter Schrittkadenz, und die supranationale Community applaudiert diesem Slapstick. (Und, wer weiss – weder Ignazio noch Viola bleiben ewig Bundesräte –, vielleicht lässt sich so eroberter Ruhm nach Abschluss der Bundesratslaufbahn in ein internationales diplomatisches Amt ummünzen). EU und NATO jedenfalls nehmen die institutionelle Annäherung der Schweiz mit Wohlgefallen wahr.
Einige Bundesräte scheinen es sich zum Ziel gemacht zu haben, Stück für Stück die Neutralität zu verschachern – und zwar zu einem Zeitpunkt, als ihre Verteidigung nötiger wäre als je. The trend is my friend, sagen sie sich. Oder auf Deutsch: Hängen wir unsere Fahne in den Wind, dann liegen wir nie falsch
Oder immer.
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Seit 2020 können Sie in der „DMZ“ Woche für Woche die Kommentare von Dr. Reinhard Straumann verfolgen. Seine Themen reichen von Corona über amerikanische Außen- und schweizerische Innenpolitik bis hin zur Welt der Medien. Dabei geht Straumann stets über das hinaus, was in den kommerziellen Mainstream-Medien berichtet wird. Er liefert Hintergrundinformationen und bietet neue Einblicke, häufig mit Verweisen auf Literatur und Philosophie.
Dr. Reinhard Straumann ist Historiker und verfügt über das nötige Fachwissen. Als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich zudem jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen engagiert. Wir freuen uns, dass Reinhard Straumann regelmäßig zum Wochenende einen festen Platz in der DMZ unter dem Titel „Straumanns Fokus am Wochenende“ hat.
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