DMZ – LEBEN ¦ David Aebischer ¦
Die frisch publizierten Erkenntnisse des UNICEF-Berichts "Report Card 18" mit dem Titel "Child Poverty in the Midst of Wealth" schlagen zurecht Alarm und beleuchten besorgniserregend die steigende Kinderarmut, selbst in wirtschaftlich blühenden Ländern wie der Schweiz. Diese beunruhigenden Entwicklungen erfordern eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Risikofaktoren und Auswirkungen dieses bedrückenden Phänomens.
Kinderarmut ist ein komplexes Problem, dessen Risikofaktoren vielfältig sind. Häufig tragen niedrige Familieneinkommen, Arbeitslosigkeit der Eltern, geringes Bildungsniveau, hohe Gesundheitskosten, Wohnungsunsicherheit, alleinerziehende Familien und soziale Ungleichheit zur Kinderarmut bei. Gesellschaftliche und wirtschaftliche Strukturen, wie Wirtschaftskrisen und politische Entscheidungen, spielen ebenfalls eine Rolle. Die Bekämpfung von Kinderarmut erfordert daher umfassende Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen, um die verschiedenen Herausforderungen anzugehen.
Um mehr über diese besorgniserregende Entwicklung zu erfahren, haben wir UNICEF Schweiz und Liechtenstein kontaktiert, um Einblicke von Experten und Analysen zum Wohl der Kinder zu bekommen. Nicole Hinder, Bereichsleiterin für Child Rights Advocacy bei UNICEF Schweiz und Liechtenstein, hat unsere drängenden Fragen beantwortet.
DMZ: Frau Hinder, könnten Sie bitte auf die Gründe eingehen, warum die Kinderarmut in der Schweiz trotz des allgemeinen Wohlstands im Land zugenommen hat?
Nicole Hinder: Der Bericht definiert die Kinderarmut als relatives Phänomen im Verhältnis zum Lebensstandard der Gesamtbevölkerung. Die Hauptmessgröße in der Report Card 18 ist entsprechend die relative Einkommensarmut, d. h. der Anteil der Menschen, die im Verhältnis zum Einkommen der Durchschnittsbevölkerung unter einen bestimmten Schwellenwert fallen.
Die gängigsten relativen Armutsgrenzen liegen bei 60% des mittleren verfügbaren Äquivalenzeinkommens der gesamten Bevölkerung. Das Äquivalenzeinkommen berücksichtigt die Unterschiede in der Haushaltsgröße, da das Leben in größeren Haushalten zu Einsparungen führt.
Insgesamt ist die materielle Entbehrung bei Kindern in der Schweiz relativ gering, mit Ausnahme von Wohnungsproblemen. Aufgrund des grundsätzlich hohen Wohlstands in der Schweiz, fallen viele Familien mit tiefen Einkommen und damit die Kinder unter den genannten Schwellenwert.
Gründe für die Zunahme der Kinderarmut in der Schweiz sind:
Obwohl die Ausgaben für Kinder und Familien allgemein gestiegen sind, ist die Einkommensunterstützung für Familien mit Kindern der unteren Einkommensklassen rückläufig. So ist der Druck auf Prämienverbilligungen der Krankenkassen oder auf die Höhe der Sozialhilfe enorm hoch und akzentuiert sich jeweils, wenn in den Gemeinden, den Kantonen oder beim Bund gespart werden muss. Beispielsweise sind die Richtlinien der SKOS, die das Existenzminimum definieren, nicht bindend und somit eine Unterschreitung ebendieser möglich. Solche Transferleistungen sind aber enorm wichtig und ein effizientes Mittel um Kinderarmut zu bekämpfen, wie auch der Bericht zeigt.
Während bis ca. 2019 die Armut eher rückläufig war und die wirtschaftlichen Bedingungen günstig, hatten eine Reihe von Ereignissen (COVID-19-Pandemie, Störungen in den globalen Lieferketten und der Krieg in der Ukraine) Schocks und negative Folgen auf die Wirtschaft und die auch die Lebensbedingungen von Kindern. Die Daten zeigen jedoch nicht ein klares Bild, da in dieser Zeit z.T. auch Datenlücken bestehen.
Seit 2022 sind die Energie- und Nahrungsmittelpreisen in den OECD-Ländern stark gestiegen. Innerhalb eines Jahres stiegen die Kosten für Nahrungsmittel und Energie um 13 bzw. 30 Prozent. Die Lebenshaltungskostenkrise war für Haushalte mit niedrigem Einkommen besonders verheerend, weil diese einen großen Teil ihres Einkommens für Grundnahrungsmittel und Wohnen / Energie ausgeben.
Wie sich die Armut weiter entwickelt, muss gut beobachtet werden. die Zahlen der Report Card 18 reichen bis ins Jahr 2021. seither ist der Druck auf den Staatshaushalt gestiegen: mehr Investitionen in die Verteidigung, Kriege, starke Teuerung etc. erhöhen den Druck auf die Budgets. Bildung, Gesundheit und die Sozialwerke geraten mehr unter Druck.
DMZ: Wie bewertet UNICEF die Effektivität der staatlichen Maßnahmen zur Einkommensunterstützung für Familien mit Kindern in der Schweiz?
Nicole Hinder: Wie der Bericht zeigt, reduzieren staatliche Geldleistungen wie Sozialhilfe die Einkommensarmut von Kindern bereits um fast die Hälfte; zusätzliche Investitionen, um mehr Kinder mit großzügigeren Leistungen zu versorgen, könnten die Bemühungen des Landes zur Beseitigung der Kinderarmut noch verstärken. Eine mögliche Abhilfe wäre die Indexierung der Transferleistungen, um die Kaufkraft der Hilfsgelder aufrechtzuerhalten.
Geldleistungen für Kinder und Familien wie bspw. Kinderzulagen, die Sozialhilfe oder Prämienverbilligungen sind ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Kinderarmut in der Schweiz. Ohne Geldleistungen hätte die Kinderarmut im Jahr 2021 bei 30,3 % gelegen.
Gleichzeitig ist es wichtig, diese gezielt einzusetzen. Neben Geldleistungen, die allen in gleichem Masse zugute kommen (wie beispielsweise Kindergelder, die einkommensunabhängig sind) lohnt es sich, in die gezielte Unterstützung von besonders von Armut betroffenen Gruppen zu investieren. Schaut man sich die Verschärfungen in der Sozialhilfe an - namentlich auch für geflüchtete Familien - oder die Kürzungen in den Prämienverbilligungen, ist der Trend eher gegenläufig.
DMZ: Welche langfristigen Auswirkungen hat UNICEF auf das Aufwachsen und die Entwicklung von Kindern, die von Armut betroffen sind, identifiziert?
Nicole Hinder: Armut bedeutet für Kinder Entbehrungen. Diese sind unmittelbar in der Kindheit vorhanden, wenn Kinder ohne ausreichend nahrhafte Lebensmittel, Kleidung, Schulsachen oder ein warmes Zuhause aufwachsen. Die Folgen von Armut können ein Leben lang anhalten. Kinder, die von Armut betroffen sind, haben geringere Chancen, die Schule abzuschließen und verdienen als Erwachsene weniger Geld. Auch die Auswirkungen auf die physische und psychische Gesundheit können gravierend und langfristig sein. In einigen Ländern hat eine Person, die in einem benachteiligten Gebiet geboren wird, eine um acht bis neun Jahre geringere Lebenserwartung als eine Person, die in einem wohlhabenden Gebiet geboren wird.
Die Report Card zeigt, dass Kinder bestimmter Minderheitengruppen ein erhöhtes Maß an Armut erleben, darunter von Migration betroffene Kinder, Kinder mit Behinderungen und Kinder, die rassischen oder ethnischen Minderheiten angehören.
Dass die Schweiz bezüglich Chancengerechtigkeit von armutsgefährdeten Kindern noch Luft nach oben hat, zeigt die Studie «Kinderrechte aus Kinder- und Jugendsicht» eindrücklich. Die Studie wurde von UNICEF Schweiz und Liechtenstein gemeinsam mit dem Institut für Soziale Arbeit und Räume (IFSAR) der OST- Ostschweizer Fachhochschule erstellt.
Insbesondere von materieller Armut betroffene Kinder und Jugendliche können ihre Rechte nur bedingt wahrnehmen und verfügen nicht über dieselben Möglichkeiten und Chancen wie andere Kinder und Jugendliche in der Schweiz. Diese Erkenntnis zieht sich durch alle Lebensbereiche und Rechte hindurch.
Von materieller Armut betroffene Kinder bewerten ihr Wohlergehen signifikant negativer als andere. Sie fühlen sich abgesehen von den digitalen Medien in allen erfragten Lebensbereichen Familie, Schule, Freizeit und am Wohnort weniger sicher als jene Kinder, die nicht von materieller Armut betroffen sind. Bei den partizipatorischen Rechten zeigt sich ein ähnliches Bild. Von Armut betroffene Kinder fühlen sich in allen Lebensbereichen weniger gehört, schätzen die Zeit, die Erwachsene ihnen widmen, als geringer ein und geben an, dass sie durchschnittlich deutlich weniger häufig nach ihrer Meinung gefragt werden.
Von Armut betroffene Kinder machten zudem signifikant häufiger Gewalterfahrungen innerhalb der Familie. Besonders stark zeigt sich der Unterschied bei körperlicher Gewalt. Selbst bei den nicht armutsbetroffenen Kindern gibt mit 25,3 Prozent jedes vierte Kind an, in der Familie schon einmal physische Gewalt erlebt zu haben. Bei den Kindern, die teilweise von Armut betroffen sind, liegt der Wert bereits bei 37,4 Prozent und bei den stark armutsbetroffenen bei 40,4 Prozent. Die Zahlen liegen für psychische Gewalterfahrungen in der Familie zwar etwas tiefer, zeigen aber grundsätzlich dasselbe Bild. In der Schule hat es keinen Einfluss auf Gewalterfahrungen, ob ein Kind armutsbetroffen ist oder nicht. Jedoch stehen Gewalterfahrungen in den digitalen Medien in einem Zusammenhang mit den finanziellen Ressourcen: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein stark armutsbetroffenes Kind negative Erfahrungen in den digitalen Medien macht, liegt mehr als doppelt so hoch wie bei den anderen Kindern.
Fehlende materielle Absicherung bedeutet für Kinder und Jugendliche folglich nicht nur eine Beschneidung ihres Rechtes auf einen angemessenen Lebensstandard, sondern behindert sie weitreichend darin, ihre Rechte wahrzunehmen und ihr volles Potenzial zu entfalten. Dadurch werden sich Ungleichheiten laufend reproduzieren. Aus Kinderrechtsperspektive ist dieses Ergebnis besonders besorgniserregend. Es ist deshalb zentral, gegen Kinderarmut in der Schweiz vorzugehen.
DMZ: Welche konkreten Empfehlungen gibt der Bericht für Regierungen und Interessengruppen, um die Kinderarmut zu bekämpfen?
Nicole Hinder: Geldleistungen haben eine unmittelbare Wirkung bei der Linderung von Armut. Die Entscheidungsträger können die Haushalte unterstützen, indem sie den Ausgaben für Kinder- und Familienleistungen Vorrang einräumen und sie erhöhen.
Die Sozialhilfe ist ein wichtiges Instrument zur Bekämpfung der Kinderarmut in der Schweiz. Ohne Geldleistungen hätte die Kinderarmut im Jahr 2021 bei 30,3 Prozent gelegen.
Um die Kinderarmut zu beseitigen, fordert die Report Card Regierungen und Interessengruppen auf, dringend folgende Maßnahmen zu ergreifen:
- Den Sozialschutz für Kinder auszubauen, einschließlich Kinder- und Familienleistungen, um das Haushaltseinkommen der Familien aufzustocken.
- Sicherstellen, dass alle Kinder Zugang zu hochwertigen Basisdienstleistungen wie Kinderbetreuung und kostenlose Bildung haben, die für ihr Wohlergehen unerlässlich sind.
- Schaffung von Beschäftigungsmöglichkeiten mit angemessener Entlohnung und familienfreundlichen Maßnahmen, wie zum Beispiel bezahlter Elternurlaub, um Eltern und Betreuungspersonen bei der Vereinbarkeit von Beruf und Betreuungsaufgaben zu unterstützen.
- Sicherstellen, dass es Maßnahmen gibt, die auf die besonderen Bedürfnisse von Minderheitengruppen und Einpersonenhaushalten zugeschnitten sind, um den Zugang zu Sozialschutz, wichtigen Dienstleistungen und menschenwürdiger Arbeit zu erleichtern und Ungleichheiten zu verringern.
Im Rahmen des Staatenberichtsverfahrens der Schweiz zur Umsetzung der Kinderrechtskonvention hat UNICEF Schweiz und Liechtenstein folgende Punkte hervorgehoben, um für alle Kinder einen guten Lebensstandard zu sichern (vgl. Alternativbericht sowie Studie "Kinderrechte aus Kinder- und Jugendsicht):
Investitionen in die Familienpolitik, insbesondere in die Frühkindliche Bildung, Betreuung und Erziehung (FBBE), zu erhöhen und dem europäischen Durchschnitt von 2,4 Prozent des BIPs anzugleichen,
die SKOS-Richtlinien durch die nationale Gesetzgebung schweizweit zu vereinheitlichen und verbindlich zu machen,
Bedarfsleistungen für Familien (Familienergänzungsleistungen und Alimentenbevorschussung) schweizweit auf Kantonsebene einzuführen beziehungsweise zu harmonisieren und auf Bundesebene gesetzlich zu verankern,
sicherzustellen, dass Kinder und Familien ohne Schweizer Pass ihr Anrecht auf Sozialhilfe beanspruchen können, ohne Angst vor negativen Auswirkungen auf ihr Aufenthaltsrecht haben zu müssen.
UNICEF Schweiz und Liechtenstein
UNICEF, das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen, hat 76 Jahre Erfahrung in Entwicklungszusammenarbeit und Nothilfe. UNICEF setzt sich weltweit für das Überleben und das Wohlergehen von Kindern ein. Zu den zentralen Aufgaben gehören die Umsetzung von Programmen in den Bereichen Gesundheit, Ernährung, Bildung, Wasser und Hygiene sowie der Schutz der Kinder vor Missbrauch, Ausbeutung, Gewalt und HIV/Aids. UNICEF finanziert sich ausschließlich durch freiwillige Beiträge und wird in der Schweiz und Liechtenstein durch das Komitee für UNICEF Schweiz und Liechtenstein vertreten. Seit 62 Jahren setzt sich UNICEF Schweiz und Liechtenstein für Kinder ein – im Ausland wie im Inland.