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Straumanns Fokus am Wochenende - Ausschließlich Frauen

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦                    

KOMMENTAR

 

Der kürzlich veröffentlichte Bericht einer (vornehmlich weiblichen) Studiengruppe der Universität Zürich über «Fälle sexuellen Missbrauchs in der katholischen Kirche der Schweiz seit 1950» hat landauf, landab für Entsetzen gesorgt. Weshalb eigentlich, muss man fragen. Der Bericht enthält rein gar nichts, was wir nicht längst wussten. Stattdessen fügt er sich harmonisch ein in täglich sich wiederholende Meldungen von Schwulitäten, Mauscheleien und Vertuschungen, die nur vordergründig im Widerspruch stehen zur Sendung der Heiligen Mutter Kirche. In Tat und Wahrheit entsprechen sie exakt ihrem innerstem Wesenskern.

 

Sind weitere Belege vonnöten? Zeitgleich mit der Niederschrift dieser Zeilen ist nach den 1002 Fällen, die die Zürcher Studie nachweist (bei einer vermuteten Dunkelziffer von 90 Prozent…), in Deutschland bekannt geworden, Kardinal Franz Hengsbach, ein Intimus von Joseph Ratzinger, Gründungsbischof des Bistums Essen, habe sich in den 50er- und 60er-Jahren mehrfach an Mädchen vergangen. Das würde der Sache die Krone aufsetzen: dass die Prälaten sich nicht nur durch Verheimlichungen, das Verschwindenlassen von Akten oder die Nicht-Weitermeldung nach Rom mitschuldig machten, sondern dass Fälle aktiver Misshandlung bis in die Spitze der Kurie hinein belegt werden können.

 

Und noch ein Müsterlein: Ebenfalls brandaktuell wird vermeldet, Pius XII., der Weltkriegspapst und tief im katholischen Antisemitismus verwurzelte grosse Schweiger, habe gemäss neu aufgetauchten Dokumenten nachweislich Bescheid gewusst über das, was in den Vernichtungslagern von Auschwitz, Treblinka etc. geschah. Exakt 60 Jahre nach den Uraufführungen des Dramas «Der Stellvertreter» in Berlin und Basel ist damit der Beweis erbracht, dass sein Autor Rolf Hochhuth wortwörtlich ins Schwarze getroffen hatte mit der Anschuldigung «Dieser Papst ist ein Verbrecher.» 6000 Menschen hatten 1963 wegen dieses Satzes (einer fiktiven Theaterfigur!) aus Protest die Innerstadt versperrt, und die Junge CVP war mit Fackeln vor dem Theater aufmarschiert.

 

Diese Zeiten sind vorbei. Auf nennenswerte Unterstützung können die Bischöfe heute nicht mehr zählen. Sie waren – bis auf ein paar ältere Damen und einige zu ihrem Schutz abgestellte Polizisten – unter sich, als sie diese Woche aus Anlass ihrer jährlichen Konferenz eine Messe feierten, quasi im Rahmenprogramm. Ansonsten: gähnende Leere in der St. Galler Stiftskathedrale. Die Litanei verhallt ungehört. Auf ein paar verirrte Schafe ist die Lämmerherde geschrumpft, und es werden täglich weniger. Was den Bischöfen bleibt, ist, sich schamerfüllt in die hinterste Ecke der öffentlichen Meinung zu verdrücken. Mit betretenen Gesichtern gucken sie in die Kameras und stammeln irgendwelche widersprüchlichen Sätze in die Mikrophone. Dafür bereuen wieder einmal, und zwar so heftig, dass sich die Objektive beschlagen. Ich kann sie nicht mehr sehen, diese Bilder.

 

Wohlverstanden: Der christliche Glaube, solange es sich um das Gebot der Nächstenliebe handelt, ist das wertvollste überlieferte Kulturgut, das Morgen- und Abendland miteinander verbindet. Die Institutionen aber, die das Christentum verwalten, sind korrupt bis auf die Knochen, verdorben an Haupt und Gliedern. Ein Hohn auf die Ideen, für die sie stehen. Und die Spitze allen Übels ist die allerheiligste, die katholische Kirche.

 

Als Gotthold Ephraim Lessing, einer der aufgeklärtesten und moralisch integersten Menschen je, seine Parabel über die drei monotheistischen Weltreligionen schrieb («Nathan der Weise»), stellte er diese Glaubensrichtungen in Gestalt von Figuren dar, die nach und nach erkennen, dass sie alle miteinander verwandt sind. Eine Abwägung der einen gegen die andere wäre deshalb absolut sinnwidrig. Der weise Nathan steht für das Judentum, der tolerante Sultan Saladin für den Islam. Nur in Sachen Christentum wird unterschieden zwischen den Guten, die für die Idee stehen, und den Abgefeimten, die für die Kirche stehen. Ihr oberster, der Patriarch von Jerusalem, ist der skrupellose Halunke des Stücks.

 

Lessing wusste, welche Geisteshaltung er im Patriarchen abbildete: die zu den Kreuzzügen geführt hat, zu den Hexenverbrennungen, zur Einsegnung von Kanonen, zur Verdammung der Vernunft. Fort damit, auf den Schrotthaufen der Geschichte! Voltaire, der französische Aufklärer und Zeitgenosse Lessings, brachte es auf den Punkt: «Ecrasez l’imfâme!», setzte er unter alle seine Briefe. Vernichtet die Niedertracht! Er meinte die katholische Kirche.

 

250 Jahre danach haben wir uns noch immer nicht so viel Aufklärung angeeignet, dass wir uns hüten würden, dieser Kirche unsere Kinder anzuvertrauen. Wie war das möglich? Durch ein über Jahrhunderte einstudiertes, brillantes Marketing. Es besteht aus einer ganzen Reihe von Tricks. Erstens: Sie hat es verstanden, sich für das Seelenheil des Individuums unentbehrlich zu machen. Zweitens: Dieses Seelenheil entscheide sich erst im Jenseits; das Individuum unterliege damit der ewigen Verdammnis. Drittens: Sie verwehrte den Frauen den Zugang zum geweihten Kreis systematisch. Diese Trickkiste gab ihren Vertretern so viel Macht und Sozialprestige, dass sich noch im 21. Jahrhundert Eltern von missbrauchten Kindern verschämt zurückhielten, die Missetäter zur Anzeige zu bringen.

 

Wo ist heute jemand, der hinsteht und ein paar Thesen an eine Kirchentür nagelt? Sie müssten beinhalten, dass diese Männerorganisation nicht zu retten ist mit einer neuen «Governance», wie Papst Franziskus sie vorschlägt, und mit halbherzigen internen Untersuchungen, die höchstens kosmetische Maßnahmen und neue Reuebekenntnisse bewirken. Sondern nur mit ihrer fundamentalen Neuorganisation unter anderem Namen, auf der Basis total neuer Satzungen sowie mit dem kollektiven Rücktritt ihrer ganzen Führungsclique. Die Lücke, die an ihrer Stelle bliebe, würde sie vollständig ersetzen. Und wo doch einige Ämter neu zu besetzen wären, dann ausschließlich mit Frauen.   

 

 

 

 

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Seit 2020 können Sie in der „DMZ“ Woche für Woche die Kommentare von Dr. Reinhard Straumann verfolgen. Seine Themen reichen von Corona über amerikanische Außen- und schweizerische Innenpolitik bis hin zur Welt der Medien. Dabei geht Straumann stets über das hinaus, was in den kommerziellen Mainstream-Medien berichtet wird. Er liefert Hintergrundinformationen und bietet neue Einblicke, häufig mit Verweisen auf Literatur und Philosophie.

 

Dr. Reinhard Straumann ist Historiker und verfügt über das nötige Fachwissen. Als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich zudem jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen engagiert. Wir freuen uns, dass Reinhard Straumann regelmäßig zum Wochenende einen festen Platz in der DMZ Mittelländischen Zeitung unter dem Titel „Straumanns Fokus am Wochenende“ haben wird.

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