· 

Die NZZ und die ETH-Studie zur Kernenergie: Widersprüche in der Berichterstattung

DMZ –  WISSENSCHAFT ¦ Anton Aeberhard ¦                        

 

In einem aktuellen Bericht der NZZ über eine Studie der ETH Zürich wird argumentiert, dass die Kernenergie idealerweise beibehalten werden sollte. Diese pauschalen Aussagen haben unsere Aufmerksamkeit erregt und uns veranlasst, den Urheber der Studie an der ETH Zürich zu kontaktieren. Wir wollten von ihm erfahren, ob die Behauptungen in der NZZ mit den tatsächlichen Aussagen und Ergebnissen der Studie übereinstimmen, da in der NZZ der Eindruck erweckt wurde, dass die Studie zu dem Schluss gekommen sei, ein Festhalten an der Kernenergie sei ideal. Unsere Sichtweise war eine andere, und wir hegen Skepsis, dass diese Darstellung nicht den tatsächlichen Ergebnissen der Studie entspricht.

 

Auf unsere Anfrage hin teilte uns Marius Schwarz, der Hauptautor der Studie vom Energy Science Center an der ETH Zürich, mit, dass unsere Einschätzung korrekt ist, und verwies auf die ausführliche Zusammenfassung der Studie.

 

"Dort differenzieren wir sehr klar zwischen der Laufzeit von bestehenden Kernkraftwerken und dem Bau eines neuen Kernkraftwerks. In unseren Ergebnissen sehen wir, dass eine längere Laufzeit der bestehenden Anlagen zu einer Verringerung der Nettoimporte im Winter, der Systemkosten und des Strompreises führen kann. Der Bau eines neuen Kernkraftwerkes würde natürlich auch die Winterimporte senken, allerdings sehr wahrscheinlich auch Mehrkosten bedeuten“, führte Marius Schwarz weiter aus und ergänzte: „Aktuelle Projekte in Europa weisen Baukosten von CHF 7,6 bis 12,6 Milliarden auf. Mit diesen Preisen würde ein neues Kernkraftwerk die Kosten für die Schweizer Stromversorgung deutlich erhöhen. Die Baukosten müssten mindestens auf CHF 5 Milliarden sinken, damit ein neues KKW für die Schweizer Stromversorgung finanziell vorteilhaft wird.“

 

In dieser Studie wird die Rolle der bestehenden und neuen Kernkraftwerke für das schweizerische Stromsystem bewertet. Es wurde die Nexus-e-Modellierungsplattform verwendet, um vier Szenarien mit unterschiedlichen Betriebszeiten der bestehenden und dem Bau neuer Kernkraftwerke zu entwickeln.

  1. Das Referenzszenario repräsentiert den Status quo der Lebensdauer der schweizerischen Kernkraftwerke (KKW), d.h. 60 Jahre für Beznau I und II und 50 Jahre für Gösgen und Leibstadt.
  2. Im Szenario KKW60 wird davon ausgegangen, dass die KKW Gösgen und Leibstadt ebenfalls die Genehmigung für einen Betrieb von 60 Jahren erhalten.
  3. Im Szenario KKW6580 werden Beznau I und II 65 Jahre und Gösgen sowie Leibstadt 80 Jahre betrieben.
  4. Im Szenario KKW60+ wird zusätzlich zu einer Betriebsdauer von 60 Jahren für alle bestehenden KKW im Jahr 2040 ein neues Kernkraftwerk gebaut, unabhängig davon, ob dies tatsächlich machbar ist in dieser Zeit.

„Wir möchten auch deutlich hervorheben, dass wir eine längere Laufzeit der bestehenden KKWs nicht als Konkurrenz zu erneuerbaren Energien sehen. Es gibt uns etwas mehr Zeit den Ausbau der inländischen Winterstromerzeugung wie beispielsweise mit alpinen PV oder der Windkraft voranzutreiben – vor allem jetzt in Hinblick auf die Entscheidung im Wallis.“, ergänzt der Hauptautor der Studie, Marius Schwarz.

Die vorliegende Untersuchung hat mehrere wichtige Ergebnisse in Bezug auf die Energiepolitik und die Stromversorgung in der Schweiz erbracht:

  • Ergebnis 1: Die aktuellen politischen Maßnahmen und Vorschriften könnten für die im "Mantelerlass" festgelegten Ziele für den Ausbau erneuerbarer Energien unzureichend sein. Eine Verlängerung der Subventionsdauer, insbesondere für alpine Photovoltaik über das Jahr 2025 hinaus, wäre vermutlich hilfreich. Es besteht die Gefahr, dass ein Mangel an erneuerbaren Energien und der Ausstieg aus der Kernenergie vor 2050 zu höheren Winterimporte im Vergleich zur aktuellen Situation führen könnten.
  • Ergebnis 2: Eine längere Laufzeit der Kernkraftwerke kann dazu beitragen, die Elektrizitätsimporte im Winter zu reduzieren und die Gesamtkosten der Stromversorgung zu senken. Dies könnte auch dazu beitragen, den Anstieg der Strompreise zu mildern. Der Bau eines neuen KKW könnte die Winterimporte und die Strompreise weiter reduzieren. Mit aktuellen Investitionskosten für Kernkraftwerke in Europa führt ein aktuelles KKW jedoch sehr wahrscheinlich zu deutlich höheren Kosten in der Schweizer Stromversorgung.
  • Ergebnis 3: Als eine alternative Option könnten Freiflächenanlagen für erneuerbare Energien, insbesondere alpine Photovoltaik und Windkraft, eine wichtige Rolle dabei spielen, die Winterimporte von Strom zu reduzieren. Diese Anlagen erzeugen einen erheblichen Anteil ihres Stroms während der Wintermonate. Es ist jedoch wichtig zu beachten, dass, um die Winterimporte niedrig zu halten, der Ausbau erneuerbarer Energien beschleunigt werden muss, insbesondere bei einem frühzeitigen Ausstieg aus der Kernenergie.
  • Ergebnis 4: Die Betriebsweise der KKW in der Schweiz könnte sich in einem zukünftigen Stromsystem verändern, das verstärkt auf Wasserkraft und intermittierende erneuerbare Energien setzt. Dies könnte bedeuten, dass KKW vermehrt im Winter und bei geringer erneuerbarer Energieerzeugung betrieben werden.

Unser Fazit: Die Schweiz steht vor Herausforderungen bei der Umsetzung ihrer Energiepolitik, wobei Kernkraftwerke (KKW) als letzte Option betrachtet werden sollten. Eine Kombination aus Maßnahmen, darunter die Verlängerung der Subventionsdauer für erneuerbare Energien, der Erhalt bestehender KKW und der Ausbau von Freiflächenanlagen, könnte dazu beitragen, die Winterimporte von Strom zu reduzieren und die Gesamtkosten der Stromversorgung zu steuern. Die genaue Umsetzung hängt jedoch von den Investitionskosten und der Geschwindigkeit des Ausbaus erneuerbarer Energien ab. Ein flexiblerer Betrieb von KKW könnte ebenfalls eine wichtige Rolle spielen, falls keine anderen Optionen verfügbar sind.

 

„Zusammengefasst sind die Ergebnisse jetzt nicht unbedingt etwas neues: längere Laufzeit lohnt sich sehr wahrscheinlich, neues Kernkraftwerk sehr wahrscheinlich nicht.“

Marius Schwarz, Hauptautor der Studie vom Energy Science Center

 

Die Szenarien beziehen sich rein auf die technische und finanzielle Darstellung von Kernkraftwerken. Andere Aspekte wie das Risiko von Atomkatastrophen, die Endlagerung von Atommüll, die Abhängigkeit von Uranimporten oder die Unsicherheiten bei den Baukosten und der Dauer der Planung und des Baus eines neuen Kraftwerks werden nicht berücksichtigt. Die Ergebnisse dieser Studie sollen quantitative Einblicke in die Szenarienunterschiede bieten, dienen jedoch nicht als Prognosen. Die Modellierung des schweizerischen Stromsystems basiert auf vielen Annahmen und Vereinfachungen. Die Gesamtkosten der Szenarien beinhalten nicht die Kosten für den erforderlichen Ausbau des Übertragungs- und Verteilungsnetzes.

 

Die Studie der ETH Zürich bietet eine spezifische Perspektive auf die Rolle der Kernenergie in der Schweizer Energiepolitik und trägt zur aktuellen Debatte darüber bei, wie die Schweiz ihre zukünftige Energieversorgung gestalten sollte. Es ist jedoch wichtig zu betonen, dass diese Studie nicht als eine Art Werbespot für den zukünftigen Bau von Kernkraftwerken in der Schweiz betrachtet werden sollte.

 

Die Frage, ob die Kernenergie in der zukünftigen Energiepolitik eine Rolle spielen sollte, ist in vielen Ländern und Regionen umstritten. Befürworter der Kernenergie argumentieren oft, dass sie eine zuverlässige und emissionsarme Energiequelle darstellt, die zur Sicherung der Stromversorgung beitragen kann. Auf der anderen Seite betonen Gegner die Risiken der Kernenergie, darunter nukleare Sicherheitsaspekte und die Problematik der Entsorgung von radioaktivem Abfall. Sie bevorzugen daher den verstärkten Ausbau erneuerbarer Energien.

 

Es ist bedauerlich, dass der Übergang zu erneuerbaren Energien oft auf politische und wirtschaftliche Hindernisse stößt. Diese Hindernisse können sowohl auf den Widerstand von Befürwortern der Kernenergie als auch auf technische und wirtschaftliche Herausforderungen zurückzuführen sein. Ein erfolgreicher Wechsel zu erneuerbaren Energien erfordert in der Regel umfassende Planung, Investitionen in Infrastruktur und Technologie sowie politische Unterstützung.

 

Letztendlich hängt die Bewertung der Studie und die Entscheidung über die Zukunft der schweizerischen Energiepolitik von einer Vielzahl von Faktoren ab. Dazu gehören Umweltauswirkungen, wirtschaftliche Überlegungen, Energieversorgungssicherheit und gesellschaftliche Präferenzen. Es ist von größter Bedeutung, dass solche Entscheidungen auf einer umfassenden Bewertung aller relevanten Informationen basieren und nicht nur auf technischen und finanziellen Aspekten. Die langfristigen Bedürfnisse und Ziele der Gesellschaft müssen berücksichtigt werden.

 

Es ist allgemein bekannt und dokumentiert, dass es in der Vergangenheit eine Marktverzerrung zugunsten der Kernenergie und zulasten anderer Energiequellen gab. Uwe Leprich von der Hochschule für Technik und Wirtschaft Saarbrücken hat darauf hingewiesen, dass „unter Berücksichtigung einer umfassenden volkswirtschaftlichen Betrachtung die Kernenergie nicht wettbewerbsfähig ist.“

Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der DMZ ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 

Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.

Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.

Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst die Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.

Kommentare: 0