DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦
KOMMENTAR
Palästina brennt – wieder einmal. Mindestens 50 Menschen sind seit Jahresbeginn ums Leben gekommen, in der überwiegenden Mehrheit waren es Palästinenser, die Opfer der israelischen Armee wurden. Ratlos stehen wir seit der Ausrufung des Staates Israel im Jahr 1948 der Unlösbarkeit eines Konfliktes gegenüber, den es so nicht geben müsste. Wer es nicht weiss, dem sei es hier zur Kenntnis gebracht: Vor 100 Jahren war ein friedliches Zusammenleben von Juden und christlichen und arabischen Palästinensern der Normalzustand. Seither ist jegliche Berufung auf die Vernunft vergebliche Mühe.
Im November 1947 wurde durch die UNO die britische Mandatsherrschaft beendet und auf der Basis eines Teilungsplans die Illusion der friedlichen Koexistenz beider Völker in die Welt gesetzt. Dieser Teilungsplan hatte zwei Mängel: Zum ersten teilte er nicht fair, sondern er begünstigte über Gebühr den Judenstaat. Einerseits wegen des schlechten Gewissens der westlichen Welt, wegen Hitlers Holocaust und aufgrund der nicht wegzudiskutierenden Tatsache, dass niemand den verfolgten Juden die Unterstützung hatte zukommen lassen, die angesagt gewesen wäre. Andererseits wollte derselbe Westen im Nahen Osten aus geostrategischen Gründen möglichst trittfest beide Füsse auf den Boden bekommen. Dazu kam der Staat Israel bestens zupass – jetzt, wo er fernab vom hausgemachten Antisemitismus in Palästina realisiert wurde.
Zweitens zeigte sich sehr bald, dass im mit viel Enthusiasmus gegründeten Staat Israel nicht nur die Jugend der Welt, die in die Kibuzzim strömte, das Sagen hatte, sondern ebenso rechtskonservative, orthodoxe Kräfte, die keine Lust hatten, sich an diesen Teilungsplan zu halten – so sehr sie auch von ihm begünstigt waren. Israel war ein Staat, der über alle möglichen Machtmittel verfügte – die Palästinenser waren eine bestenfalls geduldete Minderheit, die sich als Bürger zweiter Klasse zwangsmässig in ein Land integriert sahen, das sie ablehnte und das sie ebenfalls ablehnten. Noch in der Gründungsnacht erklärten die umliegenden arabischen Staaten Israel den Krieg.
Die Folge war Terror von beiden Seiten: der strukturelle Terror eines faktischen Apartheitsregimes einerseits, physische Terrorattacken der unterdrückten Minderheit andererseits. Das Beste, was wir seither erlebt haben, waren die Phasen, während welcher der Konflikt nicht lichterloh brannte, sondern nur vor sich hin schwelte – immer abgelöst von Akzentuierungen der Gewalt, provoziert mal von der einen, mal von der anderen Seite.
Selten aber war es so einfach, die Gründe für die Auslösung der Eskalation zu benennen, wie gegenwärtig. Israel, ein Staat, der sich als Demokratie bezeichnet, hat eine Regierung von Kriminellen. Benjamin Netanyahu, der schon wiederholte Male Premierminister war, hat einen ganzen Wust von juristischen Verfahren am Hals: Wegen Steuerhinterziehung, Amtsmissbrauch, sexueller Nötigung und was dergleichen Macho-Verhaltensmuster mehr sind. Er hatte eine einzige Chance, der Strafverfolgung zu entgehen – nämlich dadurch, sich in die Immunität zu flüchten, das heisst: ein weiteres Mal Premier zu werden.
Weil aber keine einzige anständige Partei willens war, sich neben Netanyahu auf die Regierungsbank zu setzen, verblieb ihm als Koalitionspartner nur zwielichtiges Gesindel. Er machte Itamar Ben-Gvir, eine ultraorthodoxe Kriegsgurgel, zum Minister für die nationale Sicherheit. Kaum im Amt, begann dieser eine Politik der systematischen Provokation. Jeder Palästinenser, der Gvirs persönliche Gesichtskontrolle nicht besteht, wird von ihm als Terrorist bezeichnet, was den Entzug jeglichen Rechtsschutzes bedeutet.
«Vogelfrei» hiess das im Mittelalter. Kollektivstrafen gegen Familienangehörige von «Terroristen» (ob sie es sind oder nicht…) wie der Entzug von Sozialleistungen, Deportation in die Gebiete der palästinensischen Autonomiebehörde, Zerstörung ihrer Häuser, damit sie nicht in diese zurückkehren können… all das gehört zur Tagesordnung. Pläne zur Lockerung des geltenden Waffenrechts lesen sich wie Aufforderungen an die Rechtsextremen, doch bitte bei Bedarf selbst zum (Un-)Recht zu schauen. Es wird systematisch davon Gebrauch gemacht. Strafverfolgung braucht kein Militant-Orthodoxer zu befürchten.
Ebenso ins Bild passt Bezalel Smotrich von der Partei des «Religiösen Zionismus». Er ist der Meinung, es gebe gar kein palästinensisches Volk, weshalb jegliches Gerede von einem palästinensischen Staat obsolet sei. Sein «Unterwerfungsplan» (sic!) sieht drei Möglichkeiten für die Palästinenser vor: erstens das Land zu verlassen, zweitens als Bürger zweiter Klasse in Israel zu leben, drittens «Widerstand zu leisten, und dann wird die israelische Armee schon wissen, was zu tun ist.» Unfassbar, aber wahr: Dieser Mann ist Israels Finanzminister von Netanyahus Gnaden.
Dieser Tage war der amerikanische Aussenminister Blinken zu Besuch in Israel. Er schwafelte etwas von Deeskalation, bedauerte die Gewaltexzesse im Allgemeinen und die ums Leben gekommenen Israelis im Besonderen. Blinkens Aufgabe ist es, die amerikanische Nahost-Architektur zu sichern, die sich an Saudi-Arabien anlehnt und die eine gegenseitige Anerkennung von Israel und Saudi-Arabien bereits erreicht hat, um über eine strategisch gegen den Iran gerichtete Allianz zu sichern. Obwohl die Palästinenser die Bauernopfer dieses Konstruktes sind, ist dennoch dem Punkt Beachtung zu schenken, dass eine zu harte Politik Israels gegen die Palästinenser eine innerarabische Solidarität auslösen könnte. Insofern muss Blinken Netanyahu anhalten, die Ultras seiner Regierung zu kontrollieren – also jenes oben beschriebene Gesindel, dem Netanyahu aufgrund seiner Koalitionszwänge ausgeliefert ist.
Der Zauberlehrling ist der, der die Geister ruft, weil er ihre Unterstützung braucht, und sie dann nicht mehr los wird, auch wenn sie die Katastrophe längst losgetreten haben. Das hat in Israel System: Netanyahu wird seine sogenannten Minister nicht mehr los, und ebenso geht es dem israelischen Volk mit Netanyahu. Tägliche Demonstrationen zu Zehntausenden in Tel Aviv bringen gar nichts. Wie weiter? Niemand weiss das. Aber wir sollten uns langsam wenigstens davon lossagen, einem solchen System die Attribute «Demokratie» und «westliche Werte» zuzuerkennen.
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Seit 2020 finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «DMZ» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.
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