DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦
KOMMENTAR
Aus Anlass einer besonderen Begebenheit fällt der vorliegende «Fokus» persönlicher aus als andere Beiträge zuvor: Ich erteile derzeit einen Kurs der Volkshochschule beider Basel, eine Vorlesung über sechs Lektionen. Thema: «Zeitenwende».
Am vergangenen Kursabend, dem zweiten von dreien, war der Ukraine-Krieg Gegenstand der Erörterung. Nach circa 30 Minuten macht sich Unruhe bemerkbar. Ein Kursteilnehmer gesetzten Alters hält die amerikakritische Tendenz, die ich nicht aktiv bewirtschafte, sondern die auf der Basis aller Vorbedingungen unvermeidlich ist, nicht mehr aus. Wohlverstanden: Trotz aller Kritik am Westen, an USA und NATO, hat der Vortrag keinerlei Zweifel an der Kriegsschuld Russlands und der verbrecherischen, völkerrechtswidrigen Vorgehensweise Putins offen gelassen. Dennoch bricht die verletzte Wertewelt des Kalten Krieges aus dem Zuhörer heraus: Amerika ist Freiheit, Amerika haben wir alles zu verdanken, die Sowjetunion war der Abgrund, Russland (unter Putin) ist keinen Deut besser, und die NZZ in ihrer pro-amerikanischen Haltung ist die Quelle der Wahrheit. Wie wenn es den geringsten Zweifel daran gäbe, dass jede Supermacht ihre Macht missbraucht… Dass Russland 1979 in Afghanistan einmarschiert ist, nimmt der ältere Herr als Beleg dafür, die These einer Mitschuld von NATO und USA am gegenwärtigen Ukraine-Krieg sei unerträglich. Der Vorwurf der Blasphemie steht im Raum.
Auf einem vom Kursleiter den 24 Teilnehmerinnen und Teilnehmern abgegebenen Fragebogen lautet eine Frage: «Teilen Sie die Auffassung, dass es eine mögliche und legitime Haltung ist, Putin zu verurteilen und gleichzeitig den Westen zu kritisieren?» Der Rücklauf zeigt 19 Antworten: neun Mal uneingeschränkt ja, sieben Mal eher ja, ein Mal eher nein, zwei Mal klipp und klar nein. Nein, es ist nicht erlaubt, den Westen zu kritisieren. Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Der Kursleiter erhält Unterstützung von der Mehrheit der Teilnehmenden, die dem Vortrag weiter folgen wollen. Der Kritiker erhält Unterstützung von zwei weiteren Zuhörern männlichen Geschlechts und fortgeschrittenen Alters, die aus Protest den Saal verlassen.
Einen Moment lang zieht die Afghanistan-Bemerkung die Aufmerksamkeit der Teilnehmenden auf sich. Hat die afghanische Regierung (des pro-russischen Regierungschefs Taraki) 1979 die Sowjets «zu Hilfe» gerufen oder ist die Invasion der UdSSR aus eigenen Stücken erfolgt? Ich kann die Frage nicht beantworten und verspreche Auflösung beim nächsten Kursabend. Einigkeit besteht darüber, dass die USA in der Folge die afghanischen Mudschaheddin aufgerüstet hat, was zur langen Kriegsdauer beitrug und die Niederlage der Sowjetunion ermöglichte.
Die Frage nach dem afghanischen «Hilferuf» lässt sich trotz anschliessend umfangreicher Lektüre (grossartig: Arnold Hottinger, «Islamische Welt», Zürich 2004, fundiert aus eigener Anschauung, historisch überzeugend eingebettet) nicht beantworten. Es hat ihn wohl nicht gegeben.
Dafür finde ich etwas anderes: ein Interview mit dem Sicherheitsberater des damaligen US-Präsidenten Jimmy Carter, Zbigniew Brzezinski, im «Nouvel Observateur» vom 15. Januar 1998. Brzezinski war der Falke in Carters Beraterstab. Freimütig gesteht er – besser: er brüstet sich damit –, dass die USA die Sowjets aktiv zum Einmarsch provoziert hätten.
«Gemäss der offiziellen Version der Geschichte begann die Hilfe der CIA an die Mudschaheddin im Jahre 1980, also nachdem die Sowjets am 24. Dezember 1979 in Afghanistan einmarschiert waren. Aber die Realität, streng gehütet bis heute, ist eine gänzlich andere. Es war am 3. Juli 1979, als Präsident Carter die erste Direktive unterschrieb, welche die geheime Hilfe an die Gegner des pro-sowjetischen Regimes in Kabul einleitete.» Bereuen Sie es, fragt der Interviewer, dass Sie islamistische Fundamentalisten unterstützt haben, die ihre Waffen und ihre Erfahrung an Terroristen weitergaben? «Was soll ich bereuen? Die geheime Operation war eine ausgezeichnete Idee. Sie hatte den Effekt, die Russen in die afghanische Falle zu locken. Was ist wichtiger für die Geschichte der Welt? Die Taliban oder der Zusammensturz des sowjetischen Imperiums? Einige aufgescheuchte Muslime oder die Befreiung von Zentraleuropa und das Ende des Kalten Krieges?»
Einige aufgescheuchte Muslime… Der Umgang der Macht mit Menschen ist purer Zynismus, egal, ob die Macht im Weissen Haus oder im Kreml sitzt. Interessant ist nur, dass die Kritik im einen Fall daran haftet wie an einem Klettverschluss, im anderen aber abperlt wie an einem Auto, das gerade aus der Waschstrasse fährt. Wie machen die Amis das bloss?
Natürlich gibt es Antworten auf diese Frage. Sie haben – unter anderem – viel zu tun mit den transatlantischen Netzwerken, in die unsere Medien eingebunden sind. Aber noch vielmehr geht es um Glaubensfragen. Die Leuchtkraft der Freiheitsstatue überstrahlt jede Geschichtsstunde. Der Glaube macht immun gegen historische Fakten. Als Historiker könnte man verzweifeln.
PS. Ausgerechnet das amerikafreundlichste Wochenmagazin des deutschsprachigen Raums, der FOCUS, zeigt in einem Gastbeitrag von Gabor Steingart (19.1.2023) unzweifelhaft auf, weshalb die USA ein Interesse an einer langen Kriegsdauer haben und wie sie Europa (insbesondere die Bundesrepublik) nötigen, sich hinter dieses Interesse zu stellen. «Die Ukraine führt Krieg gegen Russland, und Amerika gewinnt.» Aber was nützen schon Argumente. Amerika hat es verstanden, sich selbst zu einem Glaubensinhalt zu erheben. So machen die Amis das.
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Seit 2020 finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «DMZ» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.
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