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Prof. Antoine Flahault: «Die Pandemie ist nicht vorbei»

Prof. Antoine Flahault  (Bildquelle: unige.ch)
Prof. Antoine Flahault (Bildquelle: unige.ch)

DMZ – GESUNDHEIT / WISSEN ¦ David Aebischer ¦  Prof. Antoine Flahault (Bildquelle: unige.ch)

 

Am 21.12.2022 hat Prof. Antoine Flahault, MD, PhD, Epidemiologe und Direktor des Instituts für globale Gesundheit in Genf, in einem Interview gesagt, dass wir noch keineswegs am Ende der Pandemie sind. Ein paar Tage später, am 26.12.2022, äußert sich Prof. Christian Drosten zur Pandemie u.a. mit dem verfänglichen und fehlinterpretierbaren Satz: „Wir erleben in diesem Winter die erste endemische Welle mit Sars-Cov-2, nach meiner Einschätzung ist damit die Pandemie vorbei“. Wir wissen, dass damit natürlich lediglich die epidemische Lage gemeint ist, die von pandemisch zu endemisch wechselt. Allerdings haben fast ausschliesslich alle Medien daraufhin verkündet, die Pandemie sei zu Ende. Desinformation, wie sie leider immer häufiger vorkommt. Es ist zu befürchten, dass sich diese Falschmeldung in den nächsten Wochen auch in den Fallzahlen niederschlagen dürfte, da Maßnahmen aufgehoben werden und sich die Menschen noch unvorsichtiger verhalten werden. Zu der Problematik im Umgang mit Medien und generell zur aktuellen Lage haben wir deshalb Prof. Antoine Flahault befragt.

 

DMZ: Wie sehen Sie persönlich, als Wissenschaftler, den Umgang mit Medien und solchen Aussagen, die von Kolleginnen und Kollegen unvorsichtig gemacht werden, die dann eine Steilvorlage für Fehlinterpretationen bieten?

 

Prof. Antoine Flahault: Ich kenne und schätze Christian Drosten sehr, er gehört zu unserer europäischen Expertengruppe bei der WHO, die sich seit Beginn der Pandemie jeden Monat trifft, um die Situation des Covid-19 zu besprechen und dem Regionaldirektor in Kopenhagen Empfehlungen abzugeben.

 

Prof. Drosten hat in der Tat kürzlich ein langes Interview veröffentlicht, in dem er viele interessante Punkte anspricht, und die Medien haben, wie so oft, vor allem seinen Satz über die endemische Entwicklung der Situation und seine Einschätzung des Endes der Pandemie festgehalten.

 

Zunächst einmal verwende ich als Epidemiologe den Begriff "endemisch" nicht, um die Situation des Covid zu charakterisieren. Dieser Begriff passt in unseren Regionen gut auf die Epidemiologie von HIV oder Hepatitis B oder C. Diese Viren wurden nicht ausgerottet und zirkulieren immer noch, aber ihre Vermehrungsrate liegt nahe dem Wert 1. Das bedeutet, dass es nirgendwo in Westeuropa Wellen oder Ausbrüche von HIV-, Hepatitis-B- oder Hepatitis-C-Infektionen gibt, was natürlich bei SARS-CoV-2 nicht zutrifft.

 

Das Virus hat ja auch seit 2020 eine Reihe von fast ununterbrochenen epidemischen Wellen ausgelöst. Außerdem führt uns das Wiederaufleben der Pandemie in China, wo das Virus seit dem Ausbruch in Wuhan Anfang 2020 kaum noch zirkuliert hatte, klar vor Augen, dass die Pandemie noch nicht vorbei ist.

 

DMZ: Sie sind Epidemiologe und Direktor des Instituts für globale Gesundheit in Genf und befassen sich täglich mit der Pandemie. Wir würden Sie die aktuelle Lage in Europa beschreiben?

 

Prof. Antoine Flahault: Westeuropa hat eine sehr gut geimpfte Bevölkerung und musste eine Reihe von neun Pandemiewellen durchleben, von denen fünf allein im Jahr 2022 stattfanden.

 

Der Pandemieprozess hat sich also beschleunigt und wird durch wiederholte Mutationen des Coronavirus aufrechterhalten, das immer übertragbarer wird und sich der hybriden Immunität entzieht, welche sich aus der durch die Impfung verliehenen Immunität und den Infektionen und Reinfektionen mit dem Virus selbst zusammensetzt.

 

Trotz dieser Situation ist es Europa gelungen, wieder zu einem fast normalen Leben zurückzukehren; fast wie vor der Pandemie. Die hohe Impfrate insbesondere bei älteren Menschen ermöglicht es, die Überlastung der Krankenhäuser zu begrenzen, auch wenn die Sterberate hoch bleibt. Allein im Jahr 2022 beklagt Europa 500.000 Todesopfer durch das Coronavirus, vier- bis fünfmal mehr als durch die saisonale Grippe, die bei uns auch zu Todesfällen führt.

 

DMZ: In welchen Ländern sieht es besser aus und in welchen weniger. Und weshalb ist das so unterschiedlich?

 

Prof. Antoine Flahault: Einige Länder wie Dänemark, aber auch die nordischen Länder oder bestimmte Regionen wie die Bretagne in Frankreich oder der Westen Deutschlands weisen seit Beginn der Pandemie wesentlich bessere Gesundheitsindikatoren auf als andere Länder.

 

Sozioökonomische Aspekte wie Armut, schlechterer Zugang zur Gesundheitsversorgung und zu sozialen Puffern, aber auch die Zurückhaltung bei Impfungen und Masken könnten die Infektionen und deren Schweregrad sowie den Einfluss von Populismus und wissenschaftsfeindlichen Diskursen begünstigt haben.

 

Umweltaspekte, wie die Luftverschmutzung durch Feinstaub, spielten ebenfalls eine wichtige Rolle für das Ausmaß und die Heftigkeit der Pandemiewellen. Politische Aspekte schließlich, wie die proaktive Reaktion der Behörden, konnten eine entscheidende Rolle spielen, insbesondere als die Impfstoffe noch nicht eingesetzt wurden.

 

So war beispielsweise Dänemark das erste Land, das seine Bevölkerung im März 2020 nach nur einem registrierten Todesfall durch Covid einschränkte, während das Vereinigte Königreich 335 Todesfälle abwartete, bevor es sich zu diesem Schritt entschloss. Die anschließenden Todeszahlen in der Bevölkerung waren sehr unterschiedlich.

 

DMZ: Wie schätzen Sie die Qualität der Maßnahmen (Impfungen, Masken) heute ein? Und warum, denken Sie, funktioniert in keinem Land die vielzitierte „Eigenverantwortung“? Es ist doch paradox, dass der Mensch offensichtlich nicht wirklich daran interessiert zu sein scheint, sich und andere Menschen zu schützen.

 

Prof. Antoine Flahault: Die Eigenverantwortung hat bei der Impfung, die in fast keinem Land der Welt obligatorisch war, sehr gut funktioniert. Über 70% der Weltbevölkerung und über 90% der Europäer sind inzwischen geimpft. Dies ist ein Erfolg, der nicht ausreichend betont und gewürdigt wird.

 

Was die anderen Maßnahmen betrifft, so haben die Menschen oftmals einen gesunden Menschenverstand. Die Lage hat sich in den letzten Monaten erheblich entspannt und viele Menschen, die sich nicht sehr gefährdet für ernsthafte Komplikationen fühlen, ziehen es vor, zu ihrem Leben „wie vorher“ zurückzukehren und wollen sich nicht erneute Einschränkungen auferlegen oder gar wieder eine Maske tragen. Ich bin aber zuversichtlich, dass die Bevölkerung im Falle der Rückkehr einer neuen, virulenteren und aggressiveren Variante schnell wieder zu individuellen Schutzmaßnahmen zurückkehren würde.

 

"Was wir heute nicht wissen, ist das Ausmaß von Long Covid und aller postinfektiösen Folgen einer Infektion mit SARSCOV2. Das Tragen einer Maske könnte dieses Risiko erheblich verringern."

Prof. Antoine Flahault

DMZ: Im vergangenen Jahr haben wir eine Beschleunigung der Pandemie erlebt. Im Jahr 2022 gab es insgesamt fünf Wellen, verglichen mit nur zwei in den Jahren 2020 und 2021. Fast jeder hat sich mit Omikron infiziert. Wieso kam in praktisch keinem Land eine Maskenpflicht? Woran mag das liegen? Denn die Erfolge des Maskentragens liegen auf der Hand.

 

Prof. Antoine Flahault: Was wir heute nicht wissen, ist das Ausmaß von Long Covid und aller postinfektiösen Folgen einer Infektion mit SARSCOV2. Das Tragen einer Maske könnte dieses Risiko erheblich verringern.

 

In Krankenhäusern sieht man in der Tat, dass das Pflegepersonal durch die Maske sehr gut geschützt ist, und zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten belegen die Wirksamkeit des Tragens von Masken. Aber es ist eine gewisse Pandemie-Müdigkeit zu beobachten und der Wunsch, das Leben wie zuvor wieder aufzunehmen, hat zusammen mit der besseren Kontrolle der Schwere der Pandemie durch die Impfung dazu geführt, dass ein großer Teil der Bevölkerung auf diese doch recht einfachen und wenig freiheitsberaubenden Schutzmaßnahmen verzichtet.

 

DMZ: Aktuell haben wir weitere Viren, die uns das Leben schwer machen. RSV und Influenza dominieren allerdings die Berichterstattung, Corona wird praktisch verschwiegen, obschon die Sterblichkeit im Zusammenhang mit Covid-19 4- bis 5-mal höher ist, als z.B. bei Influenza. Wieso, denken Sie, berichten die Medien nicht transparenter in diesem Zusammenhang?

 

Prof. Antoine Flahault: Die Medien haben angesichts der Pandemie insgesamt ein hohes Maß an Verantwortung gezeigt. Diese Weihnachtszeit mit den nahenden Jahresende ist in allen europäischen Krankenhäusern besonders angespannt und die Medien berichten täglich darüber.

 

Wieder einmal sind es die Schwächsten unserer Gesellschaft, die den höchsten Preis für bezahlen. Kinder, ältere und auch immungeschwächte Menschen, Menschen mit Komorbiditäten. Ich glaube nicht, dass es den Medien im Westen an Transparenz gemangelt hat. Sehr oft waren die Nachrichten auch randvoll mit vielen anderen besorgniserregenden Nachrichten wie dem Krieg in der Ukraine, der Energiekrise und dem Klimawandel.

 

DMZ: Wir ergreifen wie bereits gesagt nicht alle Maßnahmen, die wir heute ergreifen könnten, um Abhilfe zu schaffen. Was empfehlen Sie den Menschen als effektiven Schutz, in welchen Situationen, für sich und die Mitmenschen?

 

Prof. Antoine Flahault: Diese Viren fangen wir uns nur ein, weil wir sie in Risikosituationen einatmen. Sie können minimiert werden. Das fängt mit dem Impfen an, gefolgt von einer Auffrischungsimpfung nach 6 Monaten.

 

Zweitens muss man sich bewusst machen, dass geschlossene, überfüllte und schlecht belüftete Räume die Ursache für fast alle Ansteckungen mit diesen Atemwegsviren sind. Maßnahmen wie das Tragen einer FFP2-Maske in solchen Situationen (auch in öffentlichen Verkehrsmitteln), bei Fehlen der Maske das Lüften der Räume, in denen mehrere Personen anwesend sind, das Überwachen der Lüftung mit CO2-Sensoren und das Beachten der CO2-Konzentration, die immer unterhalb von unter 600 ppm liegen soll, würden das Risiko von Covid-19, Grippe oder anderen respiratorischen Virosen erheblich verringern.

 

DMZ: Wir sehen nicht mehr, dass die Sterblichkeit sinkt. Wir befinden uns zunehmend in einem permanenten Hochübertragungsplateau. Trotzdem hat man in den letzten Jahren von Seiten der Politik nichts Wesentliches unternommen, um sich besser für künftige Pandemien zu rüsten (Luftqualität, Lüftungen, bauliche Maßnahmen...). Was wären die nächsten drängendsten Schritte, die unternommen werden müssten?

 

Prof. Antoine Flahault: Tatsächlich warten wir immer noch auf einen umfassenden "Lüftungsplan" zur Verbesserung der Qualität der Innenraumluft in ganz Europa. Nur durch umfangreiche Investitionen auf dieser Ebene könnten wir die Zirkulation dieser Atemwegsviren substanziell reduzieren und die Sterberate durch Grippe und Covid in unseren Ländern senken.

 

Dies ist eine echte Dringlichkeit für die öffentliche Gesundheit.

 

"Ich befürchte, dass den Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes, möglicherweise auch Alzheimer-Erkrankungen als Folge der Sarscov2-Infektion nicht genügend Rechnung getragen wird."

Prof. Antoine Flahault

DMZ: Was werden wir in den nächsten Jahren im Zusammenhang mit Long-Covid und Post-Covid noch zu erwarten haben? Nach wie vor ist hier die Forschung nicht tätig geworden. Die Politik schläft bei dem Thema noch verbreitet.

 

Prof. Antoine Flahault: Das ist eine große Unbekannte. Es wird sehr viel zu diesen Themen geforscht und ich befürchte, dass wir mit diesen chronischen postinfektiösen Manifestationen von Covid auf einer Zeitbombe sitzen.

 

DMZ: Sehen Sie weitere Probleme und Kollateralschäden, die auf uns zukommen könnten?

 

Prof. Antoine Flahault: Ich befürchte, dass den Risiken für Herz-Kreislauf-Erkrankungen und Diabetes, möglicherweise auch Alzheimer-Erkrankungen als Folge der Sarscov2-Infektion nicht genügend Rechnung getragen wird.

 

Es vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Arbeiten die Liste der mit Covid verbundenen Störungen und Problemen verlängern. Je effizienter wir das Zirkulieren dieses Virus auf dem Planeten eindämmen, desto besser wird es uns gehen.


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