DMZ – WISSEN / GESELLSCHAFT ¦ Marko Kovic ¦
GASTKOMMENTAR
Stell dir vor, es ist Krieg, 400’000 Menschen sterben, über 2 Millionen Kinder haben nicht genug zu essen - und niemanden interessiert’s. Klingt absurd? Leider traurige Realität: Auch 2022 haben Medien kaum über den Krieg in Jemen berichtet.
Der Krieg in Jemen brach 2014 aus, als die islamistische Huthi-Miliz nach grossen Protesten u.a. wegen Benzinverteuerung die Hauptstadt Sanaa einnahm. Die Huthis sind schiitisch. Rund 2/3 der jemenitischen Bevölkerung sind sunnitisch, 1/3 schiitisch.
Das schiitische Khamenei-Regime im Iran unterstützt die Houthis seit Jahren (im Bild ein Treffen von Khamenei mit einem Huthi-Vertreter von 2019). Diese Partnerschaft rief Saudi-Arabien auf den Plan: Saudi-Arabien sieht die Huthis als Stellvertreter des Iran, ihres Erzfeindes.
2015 wurde eine Koalition mehrheitlich sunnitischer arabischer Staaten unter Führung von Saudi-Arabien zur Kriegspartei. Saudi-Arabien greift die Huthis seither mit Bodentruppen, vor allem aber über Luftangriffe an. Mit Saudi-Arabiens Angriffen eskalierte der Krieg.
Vom Kriegschaos hat auch die Terrororganisation Al-Qaida profitiert. Ein Ableger von Al-Qaida ist seit den 1990er Jahren in Jemen präsent. Nun im Kriegschaos konnte Al-Qaida Territorium erobern. Ihr Ziel ist die Errichtung eines Kalifats.
Der Krieg wurde 2017 noch chaotischer. Die sezessionistische Bewegung im Süden gründete den Südübergangsrat (Southern Transitional Council), der den Süden de facto autonom kontrolliert. Aktuell bekämpfen sie aber zusammen mit der Regierung die Huthis.
Die Sache ist also verworren. Aktuell kontrollieren 4 Parteien den Jemen:
- Huthis den bevölkerungsreichen Westen.
- Südübergangsrat den Süden.
- Al-Qaida eine kleine Region dazwischen.
- Die offizielle Regierung v.a. den Osten.
Im Krieg spielen auch die USA eine zentrale Rolle. Die Obama- und Trump-Regierungen führten Hunderte von Luftangriffen in Jemen durch, angeblich primär gegen Al-Qaida. Heute unterstützen die USA Saudi-Arabien mit Logistik, Waffen und Planung / Informationen.
Die Huthis sind eine brutale Miliz, die u.a. Kindersoldaten einsetzt. Aber auch die von den USA de facto ermöglichte saudische Militärkampagne wird seit Jahren wegen ihrer Brutalität kritisiert, weil sie wahllos Infrastruktur und Menschen Zerstört.
Saudi-Arabien führt regelmässig Luftangriffe auf zivile Ziele durch, darunter Krankenhäuser und Beerdigungen. Die Folge sind mindestens 9000 bekannte zivile Todesopfer.
https://www.washingtonpost.com/.../saudi-war-crimes-yemen/
Saudi-Arabien bombardiert den Jemen auch mit “Double Tap”-Angriffen: Nach einem Luftangriff (auf zivile Ziele) eilen Menschen herbei, um den Überlebenden zu helfen. Darauf folgt die zweite Bombe, die die Helfer*innen tötet. Das sind Kriegsverbrechen.
https://www.bbc.com/news/world-middle-east-29319423
Bis Ende 2021 hat der Krieg insgesamt rund 377’000 Menschen getötet. 60% davon indirekt durch zu wenig Nahrungsmittel, zu wenig Trinkwasser, zu wenig Gesundheitsversorgung.
https://www.undp.org/.../assessing-impact-war-yemen...
Besonders hart trifft die humanitäre Krise Kinder. 2022 waren rund 2.2 Millionen Kinder unter 5 Jahren sowie rund 1.3 Millionen schwangere Frauen mangelernährt.
https://reliefweb.int/.../yemen-food-security-nutrition...
Der Krieg in Jemen begann wie der Ukraine-Krieg 2014. Beide Kriege sind eine humanitäre Katastrophe, und beide Kriege sind von internationaler politischer Bedeutung. Warum findet der Krieg in Jemen kaum mediale Beachtung?
Zum einen ist der Jemen-Krieg komplex. Die Konstellation und das moralische Gefälle unter den Kriegsparteien sind weniger klar als in der Ukraine (10+ Länder kämpfen mit, und es gibt keine Guten). Es ist nicht einfach, diese Komplexität journalistisch zu fassen.
Zum anderen hat der Ukraine-Krieg direktere Folgen für uns in Europa. Ukrainer*innen flüchten in andere europäische Länder; Russland versucht Europa in Energie-Geiselhaft zu nehmen. Aber das ist Teil des Problems: Leid ist nicht nur dann schlimm, wenn es uns selber betrifft.
Viele Journalist*innen leiden hier am Intergroup-Bias: Der Jemen-Krieg, der eine abstrakte Outgroup betrifft, interessiert sie schlicht nicht. Es ist ihnen de facto egal, dass irgendwo in einem armen arabischen Land Millionen von Menschen in einem brutalen Krieg leiden.
Die meisten Journis, die z.B. vermenschlichende Geschichten über das Leid ukrainischer Geflüchteter machen (was gut ist!), machen solche Geschichten über jemenitische Geflüchtete, die genauso leiden, nicht. Journis haben nur sehr selektiv Empathie mit menschlichem Leid. Die Outgroup ist nicht auf der Agenda.
Allfällige Journis, die mitlesen, sind jetzt womöglich empört: Nein, der Jemen-Krieg ist uns nicht egal! Es sind einfach die abstrakten “Nachrichtenwerte”, die uns diktieren, dass Konflikte, die geografisch oder kulturell weit weg sind, weniger Beachtung erhalten. Quatsch.
Jede*t einzelne*r Journi, auch bei Wegwerf-Formaten wie 20 Minuten oder Nau, entscheidet aktiv, worüber sie berichten und - das ist zentral - worüber nicht. “Nachrichtenwerte” sind die Folge individuellen journalistischen Verhaltens, nicht umgekehrt.
Mitlesende Journis empören sich vielleicht weiter: Doch, natürlich haben wir Themen wie den Jemen-Krieg auf dem Radar! Aber wir haben einfach keine Zeit! Redaktionen müssen mit immer weniger Ressourcen immer mehr leisten! Strukturwandel und so. Auch das ist Quatsch.
Werden Ressourcen knapper? Ist Journalismus ein schrumpfendes Nullsummenspiel? Durchaus. Aber Journis, die nicht dafür kämpfen, über Themen, die sie als wichtig erachten, berichten zu können und sich stattdessen dem organisatorischen Druck fügen, sind eben Teil des Problems.
tl;dr: Es gibt keine universale Regel, worüber Medien berichten sollen. Die Heuristik (Anzahl Betroffene)*(Intensität an Leid) ist aber ein guter Anfang. Grosses Leid verdient Aufmerksamkeit; auch dann, wenn es braune Menschen in der Ferne betrifft.
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