DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦
KOMMENTAR
Heulen und Zähneklappern in Brüssel: Eine von 14 VizepräsidentInnen des Europäischen Parlaments ist – mehr oder weniger in flagranti – bei der Bestechlichkeit erwischt worden. Die Griechin Eva Kaili, ihr Lebensabschnittsgefährte und Vater ihrer Tochter sowie ein ehemaliger Europaabgeordneter aus Italien sind festgenommen worden. Die Polizei veröffentlichte Fotos von Stapeln von Geldscheinen (insgesamt 1,5 Millionen Euro), die in Kailis Wohnung gefunden wurden. Kaili war in jüngerer Zeit durch ihre dezidierten Voten zugunsten von Katar aufgefallen, mit welchen sie das Parlament beschwörte, bitte endlich zur Kenntnis zu nehmen, wie sehr sich in Katar die Menschenrechtssituation gebessert habe und wie fair die Arbeitsbedingungen für die zum Bau der WM-Infrastruktur herbeigeschafften Wanderarbeiter mittlerweile geworden seien.
Katar, das sich die Durchführung der Weltmeisterschaften bereits im Jahr 2010 durch pure Korruption widerrechtlich angeeignet hatte, fördert sein Ansehen also bis auf den heutigen Tag mittels knochentrockener Bestechung. (Jeder vernünftige Mensch fragt sich, weshalb man die Bestechungsgelder nicht einfach in Form anständiger Löhne für die Arbeitsmigranten ausgegeben hat – und das Image wäre gepflegt. Teurer wäre die WM nicht geworden angesichts der Löhne, die bei den Scheichs für die untersten Stufen der Sozialpyramide üblich sind. Aber offenbar entspricht es einfach eher ihrer Mentalität und der Freunde von der FIFA, Funktionäre und Beamte zu schmieren als nepalesische Arbeitskräfte menschenwürdig zu behandeln. Das Bild von einer ständischen Gesellschaft, in der die einen wie in 1001 Nacht leben, weil die andern als Sklaven für sie schuften, ist offenbar die pièce de résistance ihrer Überzeugung.)
Für die EU ist der aufgeflogene Bestechungsfall ein Super-GAU, denn es steht ihre Glaubwürdigkeit insgesamt auf dem Spiel. Das ist deshalb von Bedeutung, weil sich die EU ihrem Selbstverständnis nach stets als Wertegemeinschaft deklariert hat. Dementsprechend ist die Kampfrhetorik in Brüssel stets wertebasiert und moralisch. Etwa, indem man vom ungarischen Staatschef Victor Orban Rechtsstaatlichkeit verlangt angesichts der Tatsache, dass in der ungarischen Landwirtschaft seit Jahren Milliardenbeträge von Anbauprämien irgendwo zwischen Puszta und Balaton einfach versickern. Ansonsten werde man die Fördermittel künftig einfrieren. Deshalb ist der Fall Kaili für einen wie Orban natürlich ein gefundenes Fressen, wie seine hämischen Tweets zeigen. Wirft mir hier jemand Korruption vor, der selbst bestechlich ist?
Während man sich in Europa in der Tat mit der Frage konfrontiert sieht, ob die Annahme von Bestechungsgeldern durch Frau Kaili ein Einzelfall sei und nicht die Spitze eines Eisbergs, dessen unsichtbare Masse niemand erahnen kann, tagen in Bern die eidgenössischen Räte im Rahmen ihrer Wintersession. In diesem Zusammenhang ist am Dienstag vom Nationalrat ein Geschäft behandelt worden, das wir hier dem Brüsseler Korruptionsfall gegenüberstellen möchten. Bundesrat Ueli Maurer, Finanzminister, hat sich damit Tage vor seinem Rücktritt noch einmal in Hochform in Erinnerung gerufen.
Es geht um die sogenannte «Tonnage-Steuer», also um die Frage, ob die grossen Reedereien zukünftig nicht nach ihrem Gewinn, sondern nach der Tonnage ihrer Schiffe besteuert zu werden wünschen (!). Die Schweiz ist nämlich nach Zahl der unter dem Schweizerkreuz dampfenden Schiffe – als Binnenland – die Nummer vier in Europa und die Nummer neun auf der Welt… Damit könnten diese Unternehmungen den neuen internationalen Mindest-Besteuerungssatz von 15 Prozent umgehen und durch die Tonnage-Besteuerung bis auf die Hälfte reduzieren. Es handelt sich also um nichts anderes als um ein (weiteres) Steuergeschenk an Grosskonzerne, und zwar an diejenigen, die zu den grössten globalen Dreckschleudern gehören und die die Weltmeere am dramatischsten verschmutzen. Profitieren würden Reeder-Clans wie die Familie Aponte in Genf (und ihre Shareholder), die mit 10 Milliarden Vermögen zu den reichsten der Schweiz gehören, denen nebst MSC Cruises auch die Hirslanden-Kliniken gehören und die gerne bei Gelegenheit auch die italienische Al Italia übernehmen würden.
Ihnen möchte Ueli Maurer sein Abschiedsgeschenk unter den Weihnachtsbaum legen. Der Nationalrat folgte ihm am Dienstag mit 99 zu 85 Stimmen dank der SVP, der FDP und der Mitte (die damit wieder einmal deutlich gezeigt hat, wie mittig sie ist…). Sogar die Versuche der SP, der Grünen und der Grünliberalen, die Sache abzuschwächen, indem Kreuzfahrtschiffe ausdrücklich von diesem Steuergeschenk ausgenommen würden, scheiterten an der knallharten bürgerlichen Mehrheit. Es ist anzunehmen, dass die Volksvertreter der kleinen Kammer nicht anders entscheiden werden. Immerhin gäbe es dann noch das Instrument des Referendums, um die Menschen in der Schweiz zu befragen, was sie von Uelis Abschiedsgeschenk halten.
Zum Schluss: Was haben die beiden geschilderten Situationen miteinander zu tun?
Die erste, die Brüsseler, fällt in die Thematik der Korruption. Und wo ordnen wir die andere ein, die Berner? Schwierig… Einige sprechen von Lobbyismus, andere sogar von Demokratie (es soll ja Menschen geben, die finden, Lobbyismus gehöre zur Demokratie).
Es spielt keine Rolle. Denn eigentlich ist es ja egal, wie wir hinters Licht geführt werden. Hauptsache, dass…
Seit über einem Jahr finden Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in der «Mittelländischen» Woche für Woche einen Kommentar von Dr. Reinhard Straumann. Mal betrifft es Corona, mal die amerikanische Aussen-, mal die schweizerische Innenpolitik, mal die Welt der Medien… Immer bemüht sich Straumann, zu den aktuellen Geschehnissen Hintergründe zu liefern, die in den kommerziellen Medien des Mainstream nicht genannt werden, oder mit Querverweisen in die Literatur und Philosophie neue Einblicke zu schaffen. Als ausgebildeter Historiker ist Dr. Reinhard Straumann dafür bestens kompetent, und als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen eingesetzt. Wir freuen uns jetzt, jeweils zum Wochenende Reinhard Straumann an dieser Stelle künftig unter dem Titel «Straumanns Fokus am Wochenende» in der DMZ Mittelländischen Zeitung einen festen Platz einzuräumen.
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