DMZ – KOLUMNE ¦ Alon Renner ¦
Plötzlich fehlten ihr nicht nur die Worte, sondern auch.... Dies war der letzte Satz, den ich von mir gab im zweiten Teil meines schaurig schönen Sommermärchens über Olivia Aloisis letztjährigen Unfall. Dies war vor zwei Wochen. Zwei Wochen, in denen ich wieder einmal gegen meine verdammte Krankheit ankämpfen musste. Tage, an denen ich nur das Allernotwendigste erledigen konnte. Aber diese Woche geht es nicht um mich, sondern um Olivia und ihren plötzlich auftretenden Gedächtnisschwund, um das Ringen um Erinnerung, die extremen Sehstörungen, die sie befielen und das doppelte Sehen, das fortan wie ein dunkler Schatten an ihr klebte ... All die üblen Begleiterscheinungen, die mit ihrem Fahrradsturz einhergingen.
Herzlich willkommen zu meiner neuen Kolumne. Wer die ersten beiden Teile verpasst hat, kann sie gerne hier nachlesen. https://bit.ly/3zMrFvi und https://bit.ly/3SQ2b8U
Der typische Geruch eines Krankenhauses nach Reinigungs- und Desinfektionsmitteln, abgestandenem Urin, getrocknetem Blut, Torf, Muskat, Bittermandel, Kiefer und geräuchertem Fisch, der noch zusätzlich durch die gefilterte Luft der Klimaanlage gewürzt wird, konnte Olivia nichts anhaben. Dagegen war sie seltsamerweise immun. Es war das Essen, das ihr so ganz und gar nicht behagte. Die heimtückischen Speisen, zubereitet von lieblosen Köchen, die keiner mehr haben wollte. In einem System, dessen einzige kulinarische Bedeutung von Weltruf der stetige Kostendruck war... So war sie froh, dass sie nach ihrem dritten Spitalaufenthalt innert weniger Wochen nach nur einigen Tagen die Klinik wieder verlassen durfte.
Anfangs war sie ständig erschöpft und bei vielen alltäglichen Sachen war ihr das Wissen abhandengekommen, wie sie funktionierten. Den Wecker, den Drucker und den Herd – all diese Geräte konnte sie nicht mehr bedienen. Auch fand sie sich in ihrer Küche nicht zurecht. Sie wusste weder, wo der Kaffee, noch die Tassen oder die Löffel aufzufinden waren. Der Alltag war ihr komplett aus den Händen geglitten... Und die Vermittlung dessen, was sie vergessen hatte, mit ihm. Denn das Reden fiel ihr schwer, ihr Wortschatz war eingeschränkt und die Dinge, die wir in Sätzen aneinanderreihen, kamen ihr nicht mehr in den Sinn.
Was einem dabei durch den Kopf geht ist bizarr, schwierig, fast unmöglich zu beschreiben. Es ist wie die Suche nach Wasser in einer endlosen Wüste staubigen Sandes. Man kämpft gegen das Verdursten, gegen Halluzinationen und räuberische Karawanen. Man kämpft um den klaren Verstand und darum, nicht zu verzweifeln und im Sog der gleissenden Sonne unterzugehen.
Seit dem Unfall litt sie überdies unter schweren Sehstörungen. Seither sah sie nicht nur doppelt, sondern nahm ihre Umgebung auch verschoben wahr. Für ihre Arbeit als wissenschaftliche Illustratorin aber war ihr Sehvermögen essentiell... In der Augenklinik hatte man ihr mitgeteilt, dass man da nichts ausrichten könne, weil es sich bei diesem Phänomen um ein neurologisches Problem handle. Das Einzige, was helfen würde, wäre Abwarten und Tee trinken. Viel Tee, sehr viel Tee, tausende Liter hiervon... Meistens sei dies nach einigen Monaten wieder behoben, aber es gäbe auch Patient*innen, bei denen es über sechs Monate dauern würde und in manchen, sehr seltenen Fällen, renke es sich gar nicht mehr ein.
Zu den sehr seltenen Fällen gehörte sie. Sie war Agatha Christies, Stieg Larssons und Henning Mankells letzter Fall. Ein Fall, an dem sie sich ganz offensichtlich die Zähne ausgebissen hatten.... Denn die Doppelbilder waren auch nach über einem Jahr noch da. Die Welt offenbarte sich Olivia in Paaren. Es war, als ob sie eine Arche gebaut hätte und nun an der Reling stand, um all die Tiere, Menschen und Gegenstände zu empfangen, die sie vor der Flut retten wollte.
Gegen Doppelbilder wird das eine Auge abgedeckt, wodurch aber das dreidimensionale Sehen beeinträchtigt wird. Distanzen können so nicht erfasst und richtig eingeschätzt werden. Wochenlang goss sie sich Kaffee neben der Tasse ein, griff ins Tischtuch, wenn sie nach der Gabel reichte und stellte Karaffen, Flaschen und Behälter in die Luft anstatt auf dem Tisch ab. Alles fiel zu Boden... Tastend bewegte sie sich fort, um herauszufinden, wo sich die Dinge wirklich befanden, damit sie nichts umstiess oder zum wachsenden Mosaik auf dem Boden beitrug. Wenn sie einen Termin hatte, musste sie sich beim Schminken ins Gesicht fassen, Augen und Mundrand ergreifen und die Backen befühlen, um sowohl Lippenstift, Wangenrouge als auch den Lidstrich richtig aufzutragen.
Das einzige Positive war die Augenklappe an und für sich. So konnte man sie schon von weitem als diejenige Seeräubertochter ausmachen, die vom Universum dazu auserkoren wurde, die Welt in einer riesigen, hölzernen Galeere zu retten.
Es ist ganz erstaunlich, was unser Körper alles zurechtbiegen und ausgleichen kann. Mit der Zeit stärkt das Gehirn andere Sinne, um Handicaps zu beseitigen. Und so ist Olivia inzwischen das Gehen auch auf unebenem Boden wieder möglich. Denn gehen konnte sie in den ersten Monaten nach ihrem Unfall nur sehr, sehr langsam. Den Blick unmittelbar auf ihre Füsse gerichtet, musste sie sich jeden Schritt ertasten. Unebenheiten, Bordsteinen und Treppen galt es ganz besonders zu misstrauen, denn einen weiteren Sturz konnte sie sich beim besten Willen nicht leisten.
In Innenräumen kann sie heute praktisch auf die Augenabdeckung verzichten, dem Hirn gelingt es, das Doppelbild zu «übersehen». Draussen, auf der Strasse, ist es aber immer noch schwierig für sie, weil da alles in Bewegung ist und das Gehirn mit der Flut an Information an seine Grenzen stösst. Tägliches Training bringt sie aber Schritt für Schritt weiter.
In dieser Zeit übernahm Leopold den Haushalt. Er putzte, kochte, kaufte ein und las ihr am Abend aus ihren Lieblingsbüchern vor. Auch leerte er den Briefkasten, verfasste ihre Korrespondenz und vereinbarte alle wichtigen Arzttermine. Und auch bei der täglichen Navigation konnte sie sich auf die Sinne des Gepards verlassen. Ohne ihn und die Hilfe zahlreicher Freunde wäre sie ganz aufgeschmissen gewesen.
Ein Jahr nach ihrem schrecklichen Unfall arbeitet sie wieder 100%. Und sie weiss: Das Leben ist schön und jeder Moment zählt, denn im nächsten könnte schon alles anders oder gar vorbei sein.
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