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Das Buch, um das es geht
Martin Hecht: Die Einsamkeit des modernen Menschen – Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht, Dietz-Verlag, Bonn 2021, ISBN 978-3-8012-0588-1, 18 Euro.
DMZ – SOZIALES ¦ Christoph Mueller ¦
KOMMENTAR
Es ist derzeit egal, ob ich entlang der gefüllten Regale in den Buchhandlungen laufe, die Feuilleton-Sendungen im Radio anhöre oder das eine oder andere Gespräch im sozialen Umfeld führe. Einsamkeit ist ein Begriff, über den viel gesprochen wird. Dabei stellt sich nicht zwingend die Frage, wie die Einzelne oder der Einzelne davon betroffen ist. Statt konkret Wege aus einer vielleicht leidvoll erlebten Erfahrung zu unterstützen, geht es um grundsätzliche Auseinandersetzungen mit einem zeitgenössischen Phänomen.
Der Politikwissenschaftler Martin Hecht beschäftigt sich in seinem Buch „Die Einsamkeit des modernen Menschen“ mit dem Eigensinn. Dabei geht es ihm um die Befreiung von Erfolgsbildern, „die dem modernen Menschen übergestülpt werden und die er sich zu eigen gemacht hat, ohne eigentlich zu wissen warum“ (S. 187). Mit dem Blick auf den Schriftsteller Hermann Hesse erinnert er daran, dass es um die Fähigkeit zum Teamplayer gehe, der sich selbst treu bleibe. In den Überlegungen Hechts spielt die Nachdenklichkeit gegenüber Selbstoptimierung und Perfektionismus eine Rolle, die im Ehrenbergschen Sinne bis zur Erschöpfung des Selbst führe.
In meiner beruflichen Rolle als Pflegender entdecke ich einige Erfahrungen. Fehlerkultur fehlt uns in den unterschiedlichen Settings, in denen wir als Pflegende tätig sind. Bevor wir zulassen, dass die Kolleg_innen in einer späteren Schicht die eine oder andere Aufgabe erledigen, zeigen wir den Ehrgeiz, einen bestellten Acker zu hinterlassen. Dafür verzichten wir sogar auf die nötige Arbeitspause oder eine leckere Mahlzeit.
Wir drehen einsam unsere Runden über die Stationen oder die Wohnbereiche, der Kliniken und Wohn-und Pflegheime, in denen wir arbeiten. Der Drang (oder ist es ein Zwang), seine Arbeit nahezu perfekt zu hinterlassen, macht einsam. Schließlich gelingt es nicht, mit Kolleg_innen ins Gespräch zu kommen. Noch weniger kommen wir mit den Menschen in Kontakt, die wir wegen des fehlenden seelischen Gleichgewichts oder körperlicher Unbefindlichkeiten begleiten. Selbst im Angesicht der Endlichkeit erscheint es weniger bedeutsam, einfach nur bei den Menschen zu sein. So hauchen viele Menschen einsam und verlassen den letzten Atem aus.
Der Publizist Hecht nutzt ein wunderbares Bild, das sich Pflegende irgendwie zu eigen machen können. Er schreibt über „das Absolvieren eines eng gesteckten Parcours mit vorgegebenem Ziel“ (S. 190), der einer offenen Veranstaltung gegenüberstehe, die immer neue Entscheidungen erfordere. Als Pflegender diesem Gedanken zu folgen, würde bedeuten, einer individuellen Logik zu folgen. Der institutionellen Logik zu folgen, würde heißen, sich an das Drehbuch zu halten, das ganz alltäglich in Krankenhäusern sowie Pflege-und Wohnheimen geschrieben wird. Bei dieser Choreografie übernehmen Pflegende bekanntlich lediglich Statistenrollen.
Dabei haben wir als Pflegende eine Menge zu bieten. Wir sind nicht nur die größte Berufsgruppe in den jeweiligen Einrichtungen. Zumeist gönnen wir den Betroffenen die unmittelbarsten und entscheidenden Interventionen, mit denen beispielsweise Weichen für das Leben in der eigenen Häuslichkeit gestellt werden. Dies gehört zu meinem Selbstverständnis. Und deshalb kann ich gut die Einsamkeit aushalten, die aus einem gesunden Selbstbewusstsein entspringt. Und auch der Eigensinn gefällt mir. Schließlich mache ich meine Arbeit für die Betroffenen.
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Das Buch, um das es geht
Martin Hecht: Die Einsamkeit des modernen Menschen – Wie das radikale Ich unsere Demokratie bedroht, Dietz-Verlag, Bonn 2021, ISBN 978-3-8012-0588-1, 18 Euro.
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