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Veras Gedanken im Februar

DMZ – Veras Gedanken ¦ Vera Kaa ¦

 

LESEKIND

Wir brauchen Geschichten, um psychisch überleben zu können. Sie sind tröstlich. Nur das Leben, das man sich selber erzählen kann, ist ein sinnvolles. Wenn die Literatur einen gesellschaftlichen Zweck hat, dann ist es dieser: Das Leben erzählbar machen. [Zitat von Peter Bichsel]

 

Diese Worte von Bichsel haben mich schon im Januar berührt und begleitet, denn ich war ein Lesekind, und ich habe mich erinnert, wie ichs gelernt habe. Natürlich im Mättiwil bei meiner Tante Emma am grossen Küchentisch im Alter von 5-Jahren und mit Globibüchern. Das Glück war auch, dass ein Cousin schon erwachsen war und dazu noch Lehrer. Er hat sich die Zeit genommen. Ich war fasziniert von Buchstaben und konnte es relativ schnell zusammensetzen, was da vor meinen Augen in Einzelbuchstaben vor mir lag. Und dann gings los.…

 

Die Kinder von der Krachmacherstrasse von Astrid Lindgren war mein erstes Buch. Ich tauchte ein in die Welt der Geschichten und Phantasiewelten, am liebsten mit einem Apfel an einem schönen Plätzchen irgendwo, wo mich niemand stören konnte. Ich saugte die Geschichten der Protagonist- Innen förmlich in mich hinein. Als ich dann später in die Schule kam, waren die SJW Heftli immer ganz schnell gelesen.

Ich trage all diese Erzählungen wie eine Summe von friedvollen, innigen Momenten mit mir und merke auch heute, wie tief sie in mir verankert sind. Meine Grossmutter erzählte mir, wenn immer ich bei ihr war, Geschichten. Da lagen wir in riesigen Federkissen - vor dem Haus raschelte es vom Aprikosenbaum - und schon hatte sie eine Geschichte parat: es seien die Wichtel, die an der Wand hochklettern, ins Haus in die Küche huschten und Ankeblüemli fürs Zmorge machten.

 

Bis heute glaube ich immer wieder gerne an diese Zwerge, habe wiederum Geschichten über sie für meine Kinder ausgedacht, stundenlang wundervoll illustrierte Bücher mit ihnen angeschaut, das weitergegeben, was ich eben als Kind vom Grosi überliefert bekam.

Was für ein Geschenk, die Welt der Bücher und Geschichten, was für ein Geschenk! Wie Peter Bichsel in seinen so treffenden Worten sagt: Das Leben erzählbar machen.

 

Die Langeweile war ein Geschenk in Kindertagen... denn so entstanden wiederum Geschichten, die wir uns im Spiel ausdachten. Diese lange Weile, die wir auskosten konnten. Kostbare Stunden, Tage, Jahre.

Im Januar, als es über Tage so schneite und die Kinder alle zusammen glückselig, über die grosse Wiese schlittelten, purzelten, da war diese tiefe verwurzelte Freude über dieses Miteinander ohne Wertungen, einfach im Moment Geniessende so stark. Es lag förmlich in der Luft. Nie habe ich mehr fröhliche Posts auf Facebook gesehn. Die Schwere der Pandemiezeit wurde gemildert. In einer kurzen Zeitspanne wurden wieder zu den Kindern, die wir damals waren.… Unsere Geschichten, unsere Kindertage, erzählt, gelebt in Minuten, Stunden, Jahren. Wir wurden weicher, offener in diesen Schneetagen.

 

Ja, diese Pandemie fordert und belastet uns alle… vor allem die, die mit Existenzsorgen zu kämpfen haben. Wir müssen da durch, ob wir wollen oder nicht. Diese Geschichte wird geschrieben und in ein Buch der Erinnerungen verwandelt. Und die will ich in allem Schwerem, auch mit Leichtem verbinden, wie die weissen Tage im Januar 2021, die Gemeinsamkeiten der gleichen innigen Momente, die Fremde, Freunde, Liebende miteinander teilen, denn es ist unser Buch der Erinnerungen, der Geschichten, die erzählt werden wollen. Der Schnee ist weg, der Frühling naht, die Nächte kürzer, die Tage länger.

 

….Wie Peter Bichsel so einmalig formuliert: Nur das Leben, das wir uns selber erzählen können, ist ein sinnvolles.   

 

Vera Kaa, eine der vielseitigsten Sängerinnen der Schweiz, geboren in Luzern, seit 40 Jahren auf den Bühnen dieses Landes unterwegs...


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