
DMZ - POLITIK ¦ Matthias Walter
Am 9. Mai inszenierte sich der russische Präsident Wladimir Putin wie jedes Jahr beim sogenannten "Tag des Sieges" über Nazi-Deutschland. Eine Inszenierung, die in Moskau längst nicht mehr bloß an den Zweiten Weltkrieg erinnern soll, sondern vor allem einem Zweck dient: Die eigene Gegenwart umzudeuten – und Verantwortung für einen brutalen Angriffskrieg auf die Ukraine abzustreifen.
In seiner diesjährigen Rede vor internationalen Gästen auf dem Roten Platz präsentierte sich Putin als Verteidiger einer multipolaren Weltordnung gegen den angeblich dekadenten und kriegstreiberischen Westen. Die NATO, so seine wiederholte Erzählung, sei von Anfang an ein Instrument gegen Russland gewesen – und der Westen bemühe sich mit aller Macht, die Souveränität anderer Länder zu untergraben.
Dass ausgerechnet der Präsident eines Landes, das derzeit einen souveränen Nachbarstaat überfällt, ganze Städte zerstört und Millionen zur Flucht zwingt, sich als Hüter der Selbstbestimmung aufspielt, ist mehr als eine paradoxe Volte – es ist bewusste Desinformation. Die Rhetorik des Kremls folgt dabei einem altbekannten Muster: Täter-Opfer-Umkehr. Russland, so die Erzählung, handle nicht aggressiv, sondern lediglich präventiv. Eine Sichtweise, die historische Fakten ignoriert – und gefährlich verzerrt.
Die Mär von der NATO-Einkreisung
Ein zentraler Baustein dieses Narrativs ist die angebliche Bedrohung durch die NATO-Osterweiterung. Immer wieder wird behauptet, der Westen habe Russland hintergangen und das Land systematisch eingekreist. Doch diese Darstellung hält einem nüchternen Blick auf die Geschichte nicht stand.
Die NATO-Osterweiterung war kein Akt westlicher Expansion, sondern eine Folgeentscheidung souveräner Staaten, die sich nach dem Zusammenbruch des Ostblocks von der sowjetischen Vormacht befreien wollten – und Schutz in westlichen Bündnissen suchten. Staaten wie Polen, die baltischen Länder oder Tschechien traten der NATO aus freien Stücken bei. Sie hatten gute Gründe dafür: Jahrzehntelange Fremdbestimmung und Repression unter sowjetischer Hegemonie. Dass Russland heute diesen frei gewählten Kurs als Provokation empfindet, offenbart vor allem eines: das anhaltende imperiale Denken in Teilen der russischen Führung.
Auch der oft zitierte Vorwurf, der Westen habe Russland 1990 versprochen, die NATO werde sich "keinen Zentimeter nach Osten ausdehnen", wird in dieser Eindeutigkeit von Historikern klar relativiert. Ein völkerrechtlich bindender Vertrag existiert nicht, und viele der damaligen Aussagen bezogen sich ausschließlich auf das Territorium der DDR. Die völkerrechtliche Grundlage – die Charta von Paris von 1990 – garantiert jedem Staat das Recht, selbst über seine Bündnisse zu entscheiden. Diese Vereinbarung hat auch Russland unterzeichnet.
Selbstbestimmung gilt nicht nur prorussischen Separatisten
Auffällig ist, wie selektiv der Kreml das Prinzip der Selbstbestimmung auslegt: Während prorussische Separatisten in der Ostukraine oder auf der Krim mit diesem Recht argumentieren dürfen, wird der Ukraine als Staat genau dieses Recht auf Bündniswahl abgesprochen. Dabei gibt es keine völkerrechtliche Grundlage, die einem souveränen Land verbieten würde, der NATO beizutreten – oder dies zumindest anzustreben.
Stattdessen greift Russland zur Waffe. Die Annexion der Krim 2014 war nicht etwa ein „legitimer Volkswille“, sondern ein klarer Bruch des Völkerrechts. Der aktuelle Krieg gegen die Ukraine ist kein regionaler Konflikt, sondern ein großflächiger Angriffskrieg, der täglich Menschenleben kostet und grundlegende Prinzipien der internationalen Ordnung infrage stellt.
Auch das häufig bemühte Argument, die Ukraine müsse „entnazifiziert“ werden, entbehrt jeder Grundlage. Die ukrainische Regierung wird demokratisch gewählt, rechtsextreme Parteien haben dort weniger Einfluss als in manchem EU-Land. Wer dennoch von „Nazis in Kiew“ spricht, will nicht analysieren – sondern agitieren.
Ein Krieg der Worte – mit tödlichen Folgen
Die Sprache Putins ist nicht bloß Propaganda. Sie schafft ein Weltbild, in dem Russland immer im Recht ist und jede Kritik als feindlicher Akt des Westens gewertet wird. Dieses Weltbild ist gefährlich – für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die unter Bombenhagel leben müssen, ebenso wie für die russische Bevölkerung, der alternative Informationen systematisch vorenthalten werden.
Es geht in diesem Krieg nicht nur um Territorien. Es geht auch um Wahrheit. Und um die Frage, ob autoritäre Regime das Völkerrecht nach Belieben beugen dürfen – oder ob die internationale Gemeinschaft bereit ist, für grundlegende Prinzipien einzustehen.
Putins Parallelwelt ist kein Zufall. Sie ist Kalkül. Und sie darf nicht unwidersprochen bleiben.
Quellen:
UNICEF. (2023–2025). Reports on the Situation of Children in Ukraine.
Verfügbar unter: https://www.unicef.org/emergencies/war-ukraine Dokumentiert die Entführung ukrainischer Kinder durch russische Kräfte, basierend auf Berichten bis April 2025. Human Rights Watch. (2024). Russia’s War Crimes in Ukraine: Abductions and Forced Transfers of Civilians. Verfügbar unter: https://www.hrw.org/.../international.../russia-ukraine-war Bericht über russische Kriegsverbrechen, einschließlich der Verschleppung von Kindern, die im Essay als Beleg für Russlands moralisches Versagen dient. International Criminal Court (ICC). (2023). Situation in Ukraine: Warrant of Arrest for Russian Officials. Verfügbar unter: https://www.icc-cpi.int/situations/ukraine Dokumentiert die Anklagen gegen russische Verantwortliche wegen Kindesentführungen und anderer Verbrechen. Ergänzende Analysen Kramer, Mark. (2009). The Myth of a No-NATO-Enlargement Pledge to Russia. The Washington Quarterly, 32(2), 39–61. Widerlegt die russische Narrative eines verbindlichen Versprechens und betont die Souveränität osteuropäischer Staaten. Sestanovich, Stephen. (2014). How the West Has Won—And What It Should Do Next. Foreign Affairs, 93(5), 98–104. Argumentiert, dass die NATO-Osterweiterung die Sicherheit Europas stärkte, aber auch Spannungen mit Russland unvermeidbar machte.
Kommentar schreiben