
DMZ - BLICKWINKEL ¦ Matthias Walter
(Randbemerkung: Wenn es um den Vorwurf gebrochener Verträge geht – wie Russland und Teile der westlichen Opposition der NATO mit Blick auf die Osterweiterung unterstellen, die jedoch kein Vertragsbruch, sondern Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker war –, dann sind es vielmehr die Russen, die sich nicht an Vereinbarungen gehalten haben, etwa durch die Verletzung des Budapester Memorandums von 1994, das die territoriale Integrität der Ukraine garantierte.) [1]
Die geopolitische Ambition Russlands unter Putin – Eine Analyse zwischen Nostalgie, asymmetrischer Kriegführung und europäischer Handlungsunfähigkeit
Wladimir Putin, seit über zwei Jahrzehnten dominierende Figur der russischen Politik, hat wiederholt den Zerfall der Sowjetunion als „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet (Putin, 2005). Diese Aussage ist nicht bloß rhetorische Nostalgie, sondern ein Leitmotiv, das seine politische Agenda prägt. In seinen ausufernden historischen Exkursen, die oft als ideologische Rechtfertigung dienen, wird deutlich, dass Putin eine Revision der postsowjetischen Ordnung anstrebt. Parallel dazu bedient sich Russland seit Jahren hybrider Kriegführungstechniken, während die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft und die mediale Inszenierung durch regimetreue Akteure wie Ramzan Kadyrow den machtpolitischen Anspruch untermauern. Europa hingegen erscheint in dieser Konstellation – insbesondere ohne entschiedene Unterstützung der USA – weitgehend handlungsunfähig. Dieser Essay analysiert die Dynamiken russischer Geopolitik, die Wahrscheinlichkeit eines militärischen Konflikts und die Risiken einer Verharmlosung der Lage.
Putins historische Narrative und geopolitische Vision
Putins Festhalten an der Sowjetunion als verlorenem Imperium ist mehr als persönliche Sentimentalität; es reflektiert eine strategische Weltsicht. In seiner Rede zur Lage der Nation 2005 betonte er den Verlust von Territorium, Einfluss und Bevölkerung als existenzielle Wunde (Putin, 2005). Diese Perspektive wird regelmäßig in seinen Geschichtsreferaten untermauert, die etwa die Ukraine als untrennbaren Teil der „russischen Welt“ (russ. russkij mir) stilisieren (Trenin, 2022). Solche Narrative dienen nicht nur der Legitimation innenpolitischer Kontrolle, sondern auch der Rechtfertigung externer Aggression, wie der Annexion der Krim 2014 oder der Unterstützung prorussischer Separatisten in der Ostukraine zeigt.
Die Historisierung seiner Politik ist dabei kein Selbstzweck. Sie ist Teil eines hegemonialen Diskurses, der Russland als Opfer westlicher Demütigung darstellt und gleichzeitig eine Rückkehr zu imperialer Größe propagiert (Laruelle, 2021). Dieses Denken spiegelt sich in der russischen Außenpolitik wider, die auf die Schwächung westlicher Institutionen wie NATO und EU abzielt – sei es durch Desinformation, Cyberangriffe oder die Instrumentalisierung von Energieabhängigkeiten.
Asymmetrische Kriegführung und mediale Mobilmachung
Russland verfolgt seit Jahren eine Strategie des asymmetrischen Krieges, die klassische militärische Konfrontation mit unkonventionellen Methoden kombiniert. Dazu zählen die Finanzierung von Proxy-Kräften, wie etwa in Syrien oder der Ukraine, sowie hybride Operationen, die auf Destabilisierung abzielen (Galeotti, 2019). Der Einsatz von Desinformation durch staatlich kontrollierte Medien wie RT oder Sputnik verstärkt diese Bemühungen, indem er westliche Gesellschaften spaltet und deren Reaktionsfähigkeit schwächt.
Figuren wie Ramzan Kadyrow, der tschetschenische Machthaber und Putin-Vertraute, verkörpern diesen Ansatz auf symbolischer Ebene. Kadyrows regelmäßige Drohungen gegen den Westen, gepaart mit ostentativer Loyalität zu Moskau, dienen als Projektionsfläche für russische Machtfantasien (Russell, 2023). Das staatstreue Fernsehen unterstützt dies durch eine martialische Rhetorik, die den Traum von geopolitischer Dominanz wachhält. Solche Inszenierungen sind nicht nur Propaganda, sondern auch Signal an potenzielle Gegner: Russland ist bereit, seine Interessen kompromisslos zu verteidigen.
Kriegswirtschaft und strukturelle Eskalation
Die russische Wirtschaft wurde in den letzten Jahren zunehmend auf Konflikt ausgerichtet. Seit der Krim-Annexion 2014 und den darauf folgenden westlichen Sanktionen hat Moskau seine Rüstungsausgaben massiv erhöht; 2023 entfielen etwa 30 % des Staatshaushalts auf Verteidigung und Sicherheit (SIPRI, 2024). Diese Militarisierung geht einher mit einer Autarkiepolitik, die Abhängigkeiten vom Westen reduziert, etwa durch den Ausbau von Handelsbeziehungen mit China oder Indien. Die Umstellung auf eine Kriegswirtschaft ist ein Indikator dafür, dass Putin langfristig auf Konfrontation setzt – eine Dynamik, die sich ohne drastische externe oder interne Veränderungen kaum umkehren lässt.
Europas Dilemma und die Rolle der USA
Ohne die militärische und wirtschaftliche Rückendeckung der USA bleibt Europa in einer prekären Position. Die EU verfügt weder über eine einheitliche Sicherheitsstrategie noch über die militärischen Kapazitäten, um einer russischen Bedrohung effektiv zu begegnen (Biscop, 2022). Die Abhängigkeit von russischem Gas – trotz Bemühungen um Diversifizierung – unterstreicht diese Schwäche zusätzlich. Während die NATO eine Abschreckungsfunktion erfüllt, hängt ihre Glaubwürdigkeit entscheidend von der amerikanischen Präsenz ab. Sollten die USA ihren Fokus auf den Pazifik verlagern, wie es die „Pivot to Asia“-Strategie nahelegt, könnte Europa vor einem strategischen Vakuum stehen.
Angriffswahrscheinlichkeit: Zwischen Panikmache und Naivität
Die Wahrscheinlichkeit eines direkten russischen Angriffs auf ein NATO-Mitglied wird von Experten als gering eingeschätzt, nicht zuletzt wegen der Risiken einer nuklearen Eskalation (Charap & Colton, 2023). Dennoch wäre es fahrlässig, die Anzeichen zu ignorieren. Die russische Truppenaufstockung an der ukrainischen Grenze 2021/22 und die fortgesetzte militärische Präsenz in Belarus deuten auf eine Bereitschaft zur Machtdemonstration hin. Gleichzeitig könnte die westliche Debatte über „russische Aggression“ teilweise als Panikmache überzeichnet werden, die von innenpolitischen Interessen oder Rüstungslobbys befeuert wird (Mearsheimer, 2022). Eine nüchterne Risikoabwägung erfordert jedoch, die strukturellen Faktoren – Putins Revisionismus, die Kriegswirtschaft, die hybriden Bedrohungen – ernst zu nehmen, ohne in Alarmismus zu verfallen.
Fazit
Putins Russland ist ein Akteur, der zwischen imperialer Nostalgie und moderner Machtpolitik oszilliert. Seine historische Fixierung, gepaart mit asymmetrischer Kriegführung und einer militarisierten Wirtschaft, stellt eine latente Gefahr dar, die Europa nicht ignorieren darf. Ohne amerikanische Unterstützung bleibt der Kontinent jedoch strategisch eingeschränkt. Die Balance zwischen übertriebener Panik und naiver Verdrängung zu finden, ist die zentrale Herausforderung. Eine proaktive Diplomatie, gestützt auf militärische Abschreckung und wirtschaftliche Resilienz, könnte der Schlüssel sein, um Putins geopolitischen Ambitionen Grenzen zu setzen.
Quellen
Biscop, S. (2022). European Strategy in the 21st Century. Routledge.
Charap, S. & Colton, T. (2023). Everyone Loses: The Ukraine Crisis and the Ruinous Contest for Post-Soviet Eurasia. Adelphi Series.
Galeotti, M. (2019). Russian Political War: Moving Beyond the Hybrid. Routledge.
Laruelle, M. (2021). Russia’s Ideology of Victory. Foreign Affairs.
Mearsheimer, J. (2022). The Tragedy of Great Power Politics. W.W. Norton.
Putin, W. (2005). Annual Address to the Federal Assembly of the Russian Federation. Kreml.
Russell, J. (2023). Chechnya: From Nationalism to Jihad. University of Pennsylvania Press.
SIPRI (2024). Military Expenditure Database. Stockholm International Peace Research Institute.
Trenin, D. (2022). Russia and the West: The New Cold War. Polity Press.
[1]
Randbemerkung: Wenn es um den Vorwurf gebrochener Verträge geht – wie Russland und Teile der westlichen Opposition der NATO mit Blick auf die Osterweiterung unterstellen, die jedoch kein Vertragsbruch, sondern Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts der Völker war –, dann sind es vielmehr die Russen, die sich nicht an Vereinbarungen gehalten haben, etwa durch die Verletzung des Budapester Memorandums von 1994, das die territoriale Integrität der Ukraine garantierte.
Lassen Sie uns diese Aussage Schritt für Schritt auf ihre faktische Korrektheit und Stichhaltigkeit prüfen:
1. Vorwurf gebrochener Verträge durch die NATO-Osterweiterung
Russland und einige westliche Kritiker (z. B. Teile der politischen Opposition oder Intellektuelle wie John Mearsheimer) werfen der NATO vor, mit der Osterweiterung informelle Zusagen aus den frühen 1990er-Jahren gebrochen zu haben. Konkret bezieht sich dies auf Gespräche im Rahmen der deutschen Wiedervereinigung, insbesondere auf ein Treffen zwischen US-Außenminister James Baker und Michail Gorbatschow im Februar 1990. Baker soll gesagt haben, dass die NATO sich „keinen Zoll nach Osten“ ausdehnen würde, wenn die Sowjetunion der Wiedervereinigung zustimme (Sarotte, 2021). Diese Aussage wurde jedoch nie in einem formellen Vertrag festgehalten, sondern war Teil informeller Verhandlungen.
Faktische Korrektheit: Die Randbemerkung ist korrekt, wenn sie feststellt, dass die NATO-Osterweiterung kein Vertragsbruch war. Es gibt keinen völkerrechtlich bindenden Vertrag, der die NATO an eine Nicht-Erweiterung gebunden hätte. Die „Zusage“ Bakers war mündlich, vage und wurde von späteren US-Administrationen nicht als verbindlich angesehen. Zudem betraf sie primär die Stationierung von NATO-Truppen in der ehemaligen DDR, nicht die Aufnahme neuer Mitgliedsstaaten (Kramer, 2009).
Selbstbestimmungsrecht der Völker: Die Aufnahme osteuropäischer Staaten in die NATO (z. B. Polen, Ungarn, Tschechien 1999; Baltische Staaten 2004) war eine souveräne Entscheidung dieser Länder, die ihr Recht auf Selbstbestimmung gemäß der UN-Charta (Artikel 1) ausübten. Die NATO hat diese Staaten nicht gezwungen, beizutreten; vielmehr war es deren Reaktion auf historische Erfahrungen mit sowjetischer Dominanz und die Angst vor erneuter russischer Aggression (Goldgeier, 2010). Die Randbemerkung ist hier also stichhaltig.
2. Russlands Verletzung des Budapester Memorandums
Das Budapester Memorandum von 1994 wurde von Russland, den USA und dem Vereinigten Königreich unterzeichnet, um der Ukraine Sicherheitsgarantien zu geben, nachdem sie im Gegenzug ihre nuklearen Waffen (aus sowjetischer Zeit) aufgab. Im Memorandum verpflichtete sich Russland unter anderem, die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine zu respektieren und auf den Einsatz von Gewalt zu verzichten (Budapester Memorandum, 1994).
Faktische Korrektheit: Russland hat das Budapester Memorandum eindeutig verletzt. Die Annexion der Krim 2014 und die Unterstützung bewaffneter Separatisten in der Ostukraine (z. B. in Donezk und Luhansk) stellen klare Verstöße gegen die Garantie der territorialen Integrität dar. Diese Handlungen wurden international weithin als völkerrechtswidrig verurteilt, etwa durch die UN-Generalversammlungsresolution 68/262 (2014), die die Annexion der Krim als illegal bezeichnete. Die Randbemerkung ist hier faktisch korrekt.
Stichhaltigkeit: Der Verweis auf das Budapester Memorandum ist ein starkes Argument, um Russlands Vorwurf der Vertragsbrüche durch die NATO zu kontern. Während die NATO-Osterweiterung auf informellen (und umstrittenen) Zusagen basiert, war das Budapester Memorandum ein formelles, schriftliches Abkommen. Russlands Verletzung ist daher ein klarer Beleg für die eigene Missachtung internationaler Vereinbarungen.
3. Hieb- und stichfest?
Die Randbemerkung ist weitgehend hieb- und stichfest, aber es gibt einige Nuancen, die man beachten sollte:
Stärke der Argumentation: Die Gegenüberstellung von NATO-Osterweiterung (kein Vertragsbruch) und Russlands Verletzung des Budapester Memorandums ist ein valides Argument, das die Doppelmoral in Russlands Rhetorik aufzeigt. Die Faktenlage ist klar: Es gibt keinen Beweis für einen formellen Vertragsbruch der NATO, während Russlands Handlungen in der Ukraine dokumentierte Verstöße darstellen.
Potenzielle Kritik: Russische Narrative könnten einwenden, dass die NATO-Osterweiterung zwar kein formeller Vertragsbruch war, aber gegen den „Geist“ der Entspannungspolitik der 1990er-Jahre verstieß. Diese Sichtweise ist jedoch subjektiv und ignoriert das Selbstbestimmungsrecht der osteuropäischen Staaten. Zudem könnte man argumentieren, dass das Budapester Memorandum keine „harten“ Sicherheitsgarantien (wie eine NATO-Mitgliedschaft) enthielt, sondern eher politische Zusagen – dennoch bleibt die Verletzung durch Russland unbestreitbar.
Verbesserungspotenzial: Die Randbemerkung könnte präziser sein, indem sie explizit erwähnt, dass das Budapester Memorandum völkerrechtlich bindend war, während die angeblichen NATO-Zusagen dies nicht waren. Dies würde den Kontrast noch schärfer machen.
Fazit
Die Randbemerkung ist faktisch korrekt und größtenteils hieb- und stichfest. Sie stützt sich auf eine klare Faktenlage: Die NATO-Osterweiterung war kein Vertragsbruch, sondern eine Ausübung des Selbstbestimmungsrechts, während Russland mit der Annexion der Krim und dem Krieg in der Ostukraine das Budapester Memorandum eindeutig verletzte. Die Argumentation ist stark, könnte aber durch eine präzisere Abgrenzung zwischen formellen und informellen Zusagen noch robuster werden. Insgesamt hält die Aussage einer kritischen Prüfung stand.
Zusätzliche Quellen zur Vertiefung
Sarotte, M. E. (2021). Not One Inch: America, Russia, and the Making of Post-Cold War Stalemate. Yale University Press.
Kramer, M. (2009). „The Myth of a No-NATO-Enlargement Pledge to Russia.“ The Washington Quarterly, 32(2), 39–61.
Goldgeier, J. (2010). NATO Expansion: The Anatomy of a Decision. Brookings Institution Press.
Budapester Memorandum (1994). Memorandum on Security Assurances in Connection with Ukraine’s Accession to the Treaty on the Non-Proliferation of Nuclear Weapons. UN-Dokument.
UN-Generalversammlungsresolution 68/262 (2014). Territoriale Integrität der Ukraine. Vereinte Nationen.
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