­

Physik und Philosophie (Wissenschaft und Philosophie) Hand in Hand ('Quantenphilosophie'?) – good read!

DMZ - BLICKWINKEL ¦ Matthias Walter

KOMMENTAR

 

(Auch Wissenschaft und Religion müssen keine Gegensätze sein.)

 

Die Dekonstruktion der Materie: Ein Essay über die Grenzen des Materiellen und die Wirklichkeit als Potentialität

Die Vorstellung, dass „Materie nicht aus Materie bestehe“, sondern eine Manifestation von Beziehungen oder gar „die Kruste des Geistes“ sei, gehört zu den tiefgreifendsten Einsichten der modernen Physik. Diese Idee, die unter anderem von Hans Peter Dürr, einem ehemaligen Mitarbeiter Werner Heisenbergs, pointiert formuliert wurde, steht exemplarisch für eine Erkenntnis, zu der viele weltbekannte Physiker des 20. Jahrhunderts gelangten. Sie stellt das klassische Weltbild infrage und öffnet einen Raum für philosophische Reflexion über die Natur der Realität. Dieser Essay beleuchtet diese Konzepte vor dem Hintergrund der Quantenphysik – einschließlich ihrer Grundlagen wie Superposition, Unschärfe von Ort und Impuls, Kohärenz, der Kopenhagener Deutung und des Doppelspaltexperiments – und zeigt, wie sie die Grenzen zwischen Materie, Beobachtung und Potentialität neu definieren.

 

Die Krise des klassischen Atommodells und der Beginn der Quantenrevolution

Ende des 19. Jahrhunderts ruhte die Physik auf einem vermeintlich stabilen Fundament: Materie wurde als aus unteilbaren Atomen bestehend betrachtet, die als fundamentale Bausteine der Welt galten. Doch um die Jahrhundertwende zeigten sich Risse in diesem Bild. Das Atom, lange als unteilbar angesehen, entpuppte sich als komplexes System – vergleichbar einem mikroskopischen Planetensystem, in dem negativ geladene Elektronen um einen positiv geladenen Kern kreisen. Diese Entdeckung brachte ein zentrales Problem mit sich: Nach den Gesetzen der klassischen Elektrodynamik hätten die Elektronen auf ihren Bahnen kontinuierlich Energie in Form elektromagnetischer Strahlung abgeben müssen. Dieser Energieverlust hätte sie in spiralförmigen Bahnen in den Kern stürzen lassen – ein Szenario, das die Stabilität von Atomen und damit die Existenz der Materie selbst in Frage stellte.

 

Die Unvereinbarkeit dieser Vorhersage mit der beobachteten Realität führte zu einer epistemologischen Krise. Viele bedeutende Physiker, darunter Niels Bohr, Werner Heisenberg und später Hans Peter Dürr, erkannten, dass nur eine radikale Revision des Materiebegriffs die Widersprüche auflösen konnte. Elektronen, so zeigte sich, sind nicht als klassische Teilchen mit wohldefinierten Bahnen zu verstehen, sondern als quantenmechanische Entitäten, deren Verhalten besser durch stehende Wellen beschrieben wird. Diese Wellenfunktionen repräsentieren keine fixierten Positionen, sondern Wahrscheinlichkeitsdichten – ein Paradigmenwechsel, der die Materie von einer statischen Substanz zu einem dynamischen Phänomen umdefinierte.

 

Grundlagen der Quantenmechanik: Superposition, Unschärfe, Kohärenz und das Doppelspaltexperiment

Die Quantenmechanik, die aus dieser Krise hervorging, basiert auf mehreren Grundprinzipien, die das klassische Verständnis der Physik sprengen. Eines davon ist die Superposition: Ein quantenmechanisches System – etwa ein Elektron – kann sich gleichzeitig in mehreren Zuständen befinden, etwa an verschiedenen Orten oder mit unterschiedlichen Energien. Diese Zustände werden durch eine Wellenfunktion beschrieben, die alle möglichen Konfigurationen überlagert. Ein weiteres Prinzip ist die Unschärferelation, formuliert von Heisenberg: Ort und Impuls eines Teilchens können nicht gleichzeitig exakt bestimmt werden.

 

Je präziser der Ort bekannt ist, desto unsicherer wird der Impuls, und umgekehrt. Diese fundamentale Grenze zeigt, dass die klassische Vorstellung eines Teilchens mit wohldefinierter Bahn obsolet ist.

 

Das Prinzip der Kohärenz beschreibt den Zustand, in dem die Superposition stabil bleibt, solange keine Messung oder Dekohärenz durch Wechselwirkung mit der Umgebung erfolgt. Dies wird besonders im Gedankenexperiment der Schrödinger’schen Katze greifbar: Ein System kann in einem kohärenten Überlagerungszustand verbleiben – etwa lebendig und tot zugleich –, bis eine Beobachtung eine Entscheidung erzwingt. Das Doppelspaltexperiment illustriert diese Prinzipien eindrucksvoll: Werden Elektronen oder Photonen einzeln durch zwei Spalte geschickt, erzeugen sie auf einem Schirm dahinter ein Interferenzmuster – ein Zeichen ihres Wellencharakters und ihrer Fähigkeit, sich in Superposition durch beide Spalte gleichzeitig zu bewegen. Wird jedoch versucht, ihren Weg zu messen, verschwindet das Interferenzmuster, und sie verhalten sich wie Teilchen, die nur durch einen Spalt gegangen sind. Dies zeigt, dass die Natur des Systems von der Beobachtung abhängt.

 

Die Kopenhagener Deutung, entwickelt von Bohr und Heisenberg, bietet die dominierende Interpretation dieser Phänomene. Sie besagt, dass die Wellenfunktion eines Systems alle möglichen Zustände beschreibt und durch den Messprozess – den sogenannten Kollaps der Wellenfunktion – auf einen einzigen Zustand reduziert wird, wie im Doppelspaltexperiment beobachtet. Diese Deutung steht im Gegensatz zu Alternativen wie der Pilot-Wellen-Theorie von Louis de Broglie und David Bohm, die eine deterministische Sicht vertritt, bei der Teilchen von „Führungswellen“ geleitet werden. Die Kopenhagener Deutung gilt jedoch als überlegen, da sie die Rolle des Beobachters betont und mit experimentellen Ergebnissen, insbesondere dem Doppelspaltexperiment, konsistenter ist.

 

Materie als Beziehung und Gestalt: Eine gemeinsame Einsicht

Aus diesen Grundlagen entwickelte sich eine Sichtweise, die von zahlreichen Physikern geteilt wurde: Materie ist nicht aus Materie aufgebaut, sondern aus Beziehungen und Gestalt (Vgl. Dürr). In der Quantenphysik wird die Position eines Teilchens nicht durch eine feste Koordinate bestimmt, sondern durch eine Wellenfunktion, die eine „Verschmierung“ über den Raum hinweg beschreibt – ein Zustand der Superposition, wie das Doppelspaltexperiment zeigt. Erst der Akt der Messung kollabiert diese Wahrscheinlichkeitsverteilung zu einem konkreten Zustand, wie die Kopenhagener Deutung postuliert. Dürr betonte: „Wirklichkeit ist das Potenzial, sich als Materie zu realisieren.“ Diese Idee spiegelt eine breitere Strömung wider, die von Physikern wie Heisenberg, Schrödinger und anderen vertreten wurde: Materie ist kein primäres Sein, sondern ein sekundäres Phänomen, das aus der Interaktion von System und Beobachter emergiert.

 

Heisenbergs Unschärferelation verdeutlicht diese Relationalität: Die Unschärfe von Ort und Impuls zeigt, dass die Eigenschaften eines Teilchens nicht unabhängig von der Messung existieren. Die Kopenhagener Deutung verstärkt diesen Gedanken, indem sie den Kollaps der Wellenfunktion als zentralen Mechanismus der Materialisierung hervorhebt – ein Prozess, der die Rolle des Beobachters unumgänglich macht, solange die Kohärenz des Systems intakt ist.

 

Die Unbegreiflichkeit der Welt: Ein kollektives Erbe

Heisenberg formulierte eine weitere zentrale Einsicht, die von vielen seiner Zeitgenossen geteilt wurde: „Die Welt habe gar nicht die Struktur, wissbar zu sein, sondern bleibe letztlich unbegreiflich.“ Diese Aussage reflektiert die epistemologischen Grenzen der Physik, die nicht nur eine Beschreibung der Natur anstrebt, sondern auch deren grundlegende Unfassbarkeit offenlegt. Hans Peter Dürr nahm diesen Gedanken auf und erweiterte ihn um eine holistische Perspektive, doch die Idee selbst wurzelt in einem kollektiven Erkenntnisprozess. Die Arbeiten zur Quantenmechanik, von Bohr über Heisenberg bis hin zu Schrödinger, zeigten unisono, dass die Wirklichkeit nicht in isolierten Teilchen oder Objekten besteht, sondern in einem Netzwerk von Beziehungen, das durch den Akt des Erkennens mitgestaltet wird.

 

Fazit: Materie als Prozess, nicht als Substanz

Die These, dass Materie nicht aus Materie bestehe, sondern eine Manifestation von Beziehungen und Potentialitäten sei, markiert einen Höhepunkt der quantenmechanischen Revolution – eine Erkenntnis, die nicht allein Dürr, sondern vielen weltklasse Physikern gemein ist. Superposition, Unschärferelation, Kohärenz und der Kollaps der Wellenfunktion, wie im Doppelspaltexperiment und der Kopenhagener Deutung demonstriert, zeigen, dass die Wirklichkeit vor der Messung ein kohärentes Potenzial ist, das mehrere Zustände überlagert.

 

Die Krise des klassischen Atommodells offenbarte, dass die Stabilität der Materie nicht in einer statischen Substanz begründet liegt, sondern in den Gesetzmäßigkeiten der Quantenwelt, die sich jeder anschaulichen Vorstellung entziehen. Heisenberg lieferte die mathematischen Werkzeuge, Bohr die konzeptionellen Grundlagen, und viele andere trugen dazu bei, diese neue Sichtweise zu festigen.

 

In einer Welt, in der Elektronen als „verschmierte“ Wellen existieren und erst durch Messung materialisieren, wird die Materie zu einem ephemeren Ausdruck eines tieferen Potenzials. Die moderne Physik fordert uns auf, die Grenzen des Materiellen zu überschreiten und die Wirklichkeit als dynamisches Zusammenspiel von Potenzial und Akt zu begreifen – ein Gedanke, der die Wissenschaft ebenso wie die Philosophie nachhaltig prägt.“

–––
Quellen:
Literaturverzeichnis
Bohr, Niels (1934). Atomic Theory and the Description of Nature. Cambridge: Cambridge University Press.
Grundlegendes Werk von Niels Bohr zur Kopenhagener Deutung und zur Komplementarität in der Quantenmechanik.
Born, Max (1926). „Quantenmechanik der Stoßvorgänge.“ Zeitschrift für Physik, 38(11-12), 803-827.
Einführung der Wahrscheinlichkeitsinterpretation der Wellenfunktion, ein zentraler Bestandteil der Kopenhagener Deutung.
Bohm, David (1952). „A Suggested Interpretation of the Quantum Theory in Terms of ‘Hidden’ Variables, I and II.“ Physical Review, 85(2), 166-193.
Darstellung der Pilot-Wellen-Theorie als Alternative zur Kopenhagener Deutung.
Feynman, Richard P.; Leighton, Robert B.; Sands, Matthew (1965). The Feynman Lectures on Physics, Vol. III: Quantum Mechanics. Reading, MA: Addison-Wesley.
Klassische Einführung in die Quantenmechanik, inklusive des Doppelspaltexperiments und der Superposition.
Heisenberg, Werner (1927). „Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik.“ Zeitschrift für Physik, 43(3-4), 172-198.
Originalveröffentlichung der Unschärferelation und Grundlage für die Kopenhagener Deutung.
Heisenberg, Werner (1958). Physics and Philosophy: The Revolution in Modern Science. New York: Harper & Row.
Philosophische Reflexionen Heisenbergs über die Quantenmechanik und ihre epistemologischen Implikationen.
Jönsson, Claus (1961). „Elektroneninterferenz am Doppelspalt.“ Zeitschrift für Physik, 161(4), 454-474.
Experimentelle Bestätigung des Doppelspaltexperiments mit Elektronen, ein Meilenstein der Quantenphysik.
Schrödinger, Erwin (1935). „Die gegenwärtige Situation in der Quantenmechanik.“ Naturwissenschaften, 23(48), 807-812.
Einführung des Gedankenexperiments „Schrödingers Katze“ als Kritik an der Kopenhagener Deutung.
Von Neumann, John (1932). Mathematische Grundlagen der Quantenmechanik. Berlin: Springer.
Formalisierung der Quantenmechanik, inklusive des Messprozesses und des Kollaps der Wellenfunktion.
Wheeler, John A.; Zurek, Wojciech H. (Hrsg.) (1983). Quantum Theory and Measurement. Princeton: Princeton University Press.
Sammlung klassischer Artikel zur Interpretation der Quantenmechanik, einschließlich der Kopenhagener Deutung und des Doppelspaltexperiments.
Young, Thomas (1804). „Experiments and Calculations Relative to Physical Optics.“ Philosophical Transactions of the Royal Society of London, 94, 1-16.
Historische Grundlage des Doppelspaltexperiments mit Licht, das später in der Quantenphysik adaptiert wurde.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0