
DMZ - BLICKWINKEL ¦ Matthias Walter
Big Point für Fichte und Co.! Kant ist schon klasse – aber ja: auch seine Theorien – das ist Kernbestandteil der Philosophie – eröffnen neue Fragen. Wirklich sehr faszinierend. Vielleicht „muss“ jede Erkenntnistheorie letztlich scheitern, weil alles aus unserer Linse in dieser Hinsicht zum Scheitern verurteilt ist, vielleicht... leider! Cioran bezeichnete die Philosophie (gemeinsam mit den großen Fragen der Physik, die sich ja in letzter Instanz mit der Philosophie verkuppeln) womöglich nicht umsonst als „eine Ansammlung von Irrtümern“; was überhaupt nichts über ihren Wert aussagt.
Kants „Ding an sich“ und die Kritik der Nachfolger: Eine philosophische Analyse
Immanuel Kants „Kritik der reinen Vernunft“ (1781/1787) stellt einen Wendepunkt in der Geschichte der Philosophie dar, insbesondere durch seine kopernikanische Wende, die das erkennende Subjekt ins Zentrum der Erkenntnistheorie rückt. Zentral für Kants System ist die Unterscheidung zwischen der Erscheinung (phaenomenon) und dem „Ding an sich“ (noumenon), wobei letzteres als das der menschlichen Erkenntnis grundsätzlich Unzugängliche definiert wird. Dennoch wurde Kant von nachfolgenden Philosophen, insbesondere Johann Gottlieb Fichte, scharf kritisiert. Diese Kritik richtet sich vor allem darauf, dass Kant die Verstandeskategorien – wie Raum, Zeit und Kausalität – als Mittel zur Strukturierung der Erfahrung einführt, was implizieren könnte, dass sie auf das „Ding an sich“ einwirken oder es zugänglich machen. Wenn jedoch das „Ding an sich“ per definitionem jenseits der menschlichen Erkenntnis liegt, stellt sich die Frage: Wie können die Verstandeskategorien überhaupt mit ihm in Beziehung treten oder auf es zugreifen? Dieser Essay untersucht diese Problematik, beleuchtet Fichtes Kritik und analysiert die Spannung in Kants System unter Rückgriff auf fachspezifische Terminologie und Quellen.
Kants Theorie der Verstandeskategorien und das „Ding an sich“
Kants Erkenntnistheorie basiert auf der Annahme, dass der menschliche Verstand nicht passiv die Welt abbildet, sondern aktiv an der Konstitution der Erfahrung beteiligt ist. In der „Transzendentalen Ästhetik“ und der „Transzendentalen Analytik“ der „Kritik der reinen Vernunft“ führt er die Anschauungsformen (Raum und Zeit) sowie die Verstandeskategorien (z. B. Kausalität, Substanz) ein, die als apriorische Bedingungen der Möglichkeit von Erfahrung fungieren. Diese Strukturen sind nicht Eigenschaften der Dinge selbst, sondern des erkennenden Subjekts: „Wir können demnach nur aus der Perspektive des Menschen von Raum, von ausgedehnten Wesen usw. sprechen“ (Kant, KrV, B59). Das „Ding an sich“ hingegen bleibt jenseits dieser Strukturen, da es unabhängig von unserer Wahrnehmung existiert und somit nicht durch die Kategorien bestimmt wird.
Hierin liegt jedoch eine Ambivalenz: Kant postuliert, dass das „Ding an sich“ die Ursache der Erscheinungen ist, die wir durch unsere Sinnlichkeit empfangen (KrV, A19/B33). Diese kausale Beziehung scheint eine Wechselwirkung zwischen dem Noumenon und den Verstandeskategorien anzudeuten, obwohl Kant betont, dass wir über das „Ding an sich“ nichts wissen können: „Was aber die Dinge an sich sein mögen, weiß ich nicht, und brauche es auch nicht zu wissen“ (KrV, A235/B294). Diese Spannung zwischen Unerkennbarkeit und kausalem Einfluss bildet den Kern der Kritik seiner Nachfolger.
Fichtes Kritik: Die Unvereinbarkeit von Noumenon und Kategorien
Johann Gottlieb Fichte, ein prominenter Vertreter des Deutschen Idealismus, greift diese Ambivalenz in Kants System direkt an. In seiner „Wissenschaftslehre“ (1794) argumentiert Fichte, dass Kants Begriff des „Dings an sich“ überflüssig und widersprüchlich sei. Wenn das „Ding an sich“ völlig unerkennbar ist, wie kann es dann als Ursache der Erscheinungen fungieren? Fichte sieht hierin einen Rückfall in den Dogmatismus, den Kant eigentlich überwinden wollte. Er schreibt: „Das Ding an sich ist ein Unding; denn sobald wir es denken, ist es schon kein Ding an sich mehr, sondern ein Gedachtes“ (Fichte, Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre, S. 198). Für Fichte sind die Verstandeskategorien nicht bloß subjektive Strukturen, die auf ein unbekanntes „Ding an sich“ angewiesen sind, sondern Ausdruck des absoluten Ichs, das die gesamte Realität setzt. Damit eliminiert er das Noumenon zugunsten eines idealistischen Monismus.
Fichtes Kritik zielt darauf ab, dass Kants Verstandeskategorien – obwohl sie als apriorische Bedingungen der Erfahrung definiert sind – implizit eine Beziehung zum „Ding an sich“ voraussetzen. Wenn Raum, Zeit und Kausalität nur Formen unserer Anschauung und unseres Denkens sind, wie können sie auf etwas angewendet werden, das außerhalb dieser Formen liegt? Diese Frage legt einen inneren Widerspruch in Kants System offen: Entweder ist das „Ding an sich“ tatsächlich unerkennbar, dann kann es keine kausale Rolle spielen, oder es ist zugänglich, dann widerspricht dies Kants eigener Definition.
Analyse der Spannung: Transzendentale Idealität versus realistische Residuen
Die Spannung in Kants Theorie lässt sich als Konflikt zwischen seinem transzendentalen Idealismus und einem latenten Realismus interpretieren. Der transzendentale Idealismus besagt, dass wir nur die Erscheinungen erkennen können, wie sie durch unsere Erkenntnisformen strukturiert sind: „Die Dinge, die wir anschauen, sind nicht an sich selbst so, wie wir sie anschauen“ (KrV, Bxx). Dennoch scheint Kant mit der kausalen Rolle des „Dings an sich“ einen realistischen Restbestand zu bewahren, der mit seiner eigenen Methodologie unvereinbar ist. Wie kann Kausalität – eine Kategorie des Verstandes – auf etwas angewendet werden, das jenseits des Verstandes liegt?
Ein möglicher Lösungsansatz findet sich in Kants Unterscheidung zwischen empirischer und transzendentaler Ebene. Auf empirischer Ebene ist Kausalität eine Bedingung der Erfahrung; auf transzendentaler Ebene bleibt das „Ding an sich“ ein Grenzbegriff, der lediglich die Grenzen unserer Erkenntnis markiert. Doch diese Erklärung befriedigt Kritiker wie Fichte nicht, da sie die Frage nach der Wechselwirkung zwischen Noumenon und Phaenomenon nicht auflöst. Der Philosoph Reinhold, ein Zeitgenosse Kants, formulierte dies prägnant: „Wenn das Ding an sich die Ursache der Erscheinung ist, so muss es doch irgendwie in den Bereich der Kategorien fallen“ (Reinhold, Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens, S. 245).
Schlussfolgerung
Kants Konzept des „Dings an sich“ und seine Theorie der Verstandeskategorien bilden ein Spannungsfeld, das die Grenzen seines Systems offenlegt. Während er mit den Kategorien eine revolutionäre Erklärung der Strukturierung von Erfahrung liefert, bleibt die Rolle des Noumenons ambivalent. Fichtes Kritik zeigt, dass die Annahme einer kausalen Beziehung zwischen „Ding an sich“ und Erscheinung die Unerkennbarkeit des Ersteren untergräbt und Kants System in Richtung eines konsistenteren Idealismus drängt. Ob diese Spannung als Widerspruch oder als produktive Grenze der Erkenntnis zu werten ist, bleibt eine zentrale Frage der Kant-Interpretation. Die Auseinandersetzung mit dieser Problematik verdeutlicht, dass Kants Philosophie nicht nur Antworten gibt, sondern auch neue Herausforderungen für die nachfolgende Denktradition schafft.“
Quellen
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Riga 1781/1787 (zitiert nach der B-Ausgabe).
Fichte, Johann Gottlieb: Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre. Jena 1794.
Reinhold, Karl Leonhard: Versuch einer neuen Theorie des menschlichen Vorstellungsvermögens. Prag/Jena 1789.
Allison, Henry E.: Kant’s Transcendental Idealism. Yale University Press, 2004.
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