
DMZ – SICHERHEIT ¦ Sarah Koller ¦
Der neue Pandemieplan des Bundes sorgt für politische Reibung – doch was auf den ersten Blick wie ein bürokratischer Routineakt erscheint, ist in Wahrheit ein gesellschaftlicher Lackmustest. Denn die Reaktionen auf das aktualisierte Dokument offenbaren mehr über die politische Haltung zur Wahrheit als zur Virusbekämpfung. Wer jetzt die Pandemie verharmlost oder die Lehren aus Covid-19 ignorieren will, gefährdet nicht nur die Glaubwürdigkeit der Schweiz, sondern auch ganz konkret Menschenleben.
Kritik ohne Substanz – und mit politischem Kalkül
Insbesondere von rechtskonservativer Seite – etwa EDU-Nationalrat Erich Vontobel – wird der neue Pandemieplan als voreilig und von einer angeblichen WHO-Agenda getrieben verunglimpft. Vontobel beklagt, dass die Corona-Pandemie noch nicht ausreichend aufgearbeitet worden sei – dabei verwechselt er Aufarbeitung mit Verdrängung. Wer ernsthaft an einer sachlichen Aufarbeitung interessiert ist, müsste die systematischen Versäumnisse im föderalen Kompetenzgerangel ebenso ansprechen wie das Versagen mancher Kreise, wissenschaftliche Erkenntnisse ernst zu nehmen.
Vontobels Argument, man solle zuerst warten, bis alle parlamentarischen Prozesse zum WHO-Pandemiepakt abgeschlossen seien, ist kein sachliches Anliegen – es ist ein durchschaubares politisches Manöver. Die WHO wird dämonisiert, obwohl sie eine der wenigen Organisationen ist, die weltweit versucht, koordiniert auf globale Gesundheitskrisen zu reagieren. Gerade in einem Land mit offenen Grenzen, Exportwirtschaft und internationaler Verflechtung ist eine solche Koordination überlebenswichtig.
Der Plan ist kein Schnellschuss, sondern überfällig
Fakt ist: Der neue Pandemieplan basiert auf Erfahrungen aus über drei Jahren Corona-Krise. Dass dabei Fehler gemacht wurden – von Bund, Kantonen, Medien, aber auch von uns allen als Gesellschaft – ist unbestritten. Doch ein zukunftsfähiger Plan muss nicht auf die letzte Detailanalyse warten, sondern daraus lernen, was bereits offensichtlich ist: Unklare Zuständigkeiten, uneinheitliche Kommunikation, mangelhafte Schutzkonzepte in Schulen und Pflegeeinrichtungen sowie eine gefährliche Unterschätzung von Long Covid.
Dass nun ein Plan vorliegt, der erstmals nicht auf einen spezifischen Erreger zugeschnitten ist, sondern flexibel auf neue Bedrohungen reagieren kann, ist ein Fortschritt. Ebenso wichtig ist, dass digitale Instrumente für eine schnellere Kommunikation genutzt und Zuständigkeiten klar benannt werden. Das ist keine WHO-Diktatur – das ist modernes Krisenmanagement.
Föderalismus ist kein Heiligtum
Kritik aus der politischen Mitte und von linker Seite – etwa von SP-Nationalrätin Sarah Wyss und Grünen-Nationalrätin Manuela Weichelt – zielt zurecht auf die föderale Struktur. Eine Pandemie kennt keine Kantonsgrenzen, und eine medizinische Krise lässt sich nicht im Halbtakt koordinieren. Während die Kantone eine zentrale Rolle bei der Umsetzung spielen, braucht es im Ernstfall eine nationale, entschlossene Führung. Die zögerliche Kommunikation, die uneinheitlichen Quarantäneregeln und das föderale Kompetenz-Wirrwarr in der Schweiz haben während Covid-19 nicht selten Menschenleben gekostet.
Die wahre Aufarbeitung steht noch aus – in der Gesellschaft
Wer heute fordert, die Pandemie müsse erst "aufgearbeitet" werden, bevor man neue Pläne fasst, meint häufig nicht Analyse, sondern Ausblendung. Bis heute fehlt eine umfassende gesellschaftliche Anerkennung der Risiken, die das Coronavirus immer noch birgt – insbesondere für vulnerable Gruppen, Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen. Die Pandemie ist keineswegs vorbei, sie hat lediglich ihre Form verändert. Die Entsolidarisierung, die Verharmlosung der Krankheit und die systematische Vernachlässigung von Long-Covid-Betroffenen sind Symptome einer Gesellschaft, die lieber zum Alltag zurückkehrt, als sich ehrlich mit dem Erlebten auseinanderzusetzen.
Der neue Pandemieplan ist nicht perfekt – aber er ist notwendig. Ihn jetzt zu kritisieren, weil angeblich zu wenig "aufgearbeitet" wurde, ist zynisch, solange dieselben Stimmen die wissenschaftliche Aufarbeitung systematisch torpedieren. Statt Panikmache vor einer WHO-Verschwörung braucht es nüchterne Verantwortung: gegenüber den Menschen, gegenüber der Wissenschaft und gegenüber kommenden Generationen. Denn die nächste Pandemie ist keine Frage des Ob, sondern des Wann. Und ob wir dann besser vorbereitet sind, hängt davon ab, ob wir heute ernsthafte Planung der billigen Polemik vorziehen.
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