
DMZ – POLITIK ¦ Lena Wallner ¦
Die Zahl der problematischen Gemeinschaften und Akteure steigt dramatisch – Experten fordern Regulierung, Plattformverantwortung und Schutz für Kinder
Wien – Der aktuelle Bericht der Bundesstelle für Sektenfragen zeichnet ein alarmierendes Bild: Immer mehr Menschen geraten in den Sog esoterischer Weltanschauungen, sektiererischer Gruppierungen und pseudospiritueller Online-Coaches. Besonders Kinder und Jugendliche sind zunehmend Ziel gefährlicher Manipulation. Von fragwürdigen Sommerbetreuungsangeboten über radikale Telegram-Kanäle bis hin zu brutalen Ritualen unter dem Deckmantel vermeintlicher Persönlichkeitsentwicklung – das Spektrum der Risiken ist breit und beunruhigend.
„Ja, es gibt sie noch – die Sekten. Und sie sind heute gefährlicher denn je“, erklärte Ulrike Schiesser, Leiterin der Bundesstelle, im Familienausschuss des Nationalrats. Einst sprach man von zehn beobachteten Gruppen, nun liegt die Zahl bei rund 250. Hinter harmlos klingenden Begriffen wie "Fernheilung", "Online-Coaching", "Alternative Bildung" oder "Lichtarbeit" verbergen sich zunehmend ausbeuterische, ideologisch radikalisierte Netzwerke, die sich besonders im digitalen Raum ausbreiten.
Kindeswohl massiv gefährdet – unter dem Deckmantel von "Spiritualität"
Ein zentrales Thema im Bericht ist der Schutz von Kindern. Schiesser warnte eindringlich vor „sektenartigen Dynamiken“ in Familien und Gemeinschaften, in denen Kinder von der Gesellschaft isoliert, schulisch unterversorgt oder gar psychisch unter Druck gesetzt würden. Die steigende Zahl an Beratungsfällen – ein Plus von 20 Prozent gegenüber dem Vorjahr – verdeutlicht, dass immer mehr Angehörige, Pädagogen und Kollegen besorgt reagieren.
Besonders problematisch seien private Ferienbetreuungsangebote ohne jegliche Qualitätskontrolle, hinter denen sich teilweise extremistische oder ideologische Gruppen verbergen. Die Bundesstelle fordert daher eine verbindliche Qualitätssicherung – insbesondere im Sinne des Kinderschutzes.
Esoterik und christliche Randgruppen führen Anfragenliste an
Die häufigsten Anfragen (143 Fälle) betreffen esoterische Angebote. Ein prominentes Beispiel ist der sogenannte „Geistheiler Sananda“ (Oliver Michael Brecht), der mit apokalyptischer Rhetorik und kostenpflichtigen „Fernheilungen“ eine Gefolgschaft von zehntausenden Menschen aufbaut. Unmittelbar dahinter folgen Gruppierungen mit christlichem Hintergrund (142 Fälle), darunter auch die international tätige Sekte Shincheonji, die mit kostenlosen Bibelkursen unter falscher Flagge neue Mitglieder rekrutiert.
Geschäftsmodell Verschwörungstheorie: Von der Ideologie zum Profit
Ein neuer Arbeitsschwerpunkt der Bundesstelle ist das „Geschäftsmodell Verschwörungstheorie“. Besonders in Telegram-Kanälen der Corona-Maßnahmen-Gegner sei eine besorgniserregende Entwicklung zu beobachten: Politisch motivierte Inhalte würden zunehmend durch Produktwerbung, Spendenaufrufe oder Coaching-Angebote ersetzt – ein ideologisch aufgeladener Markt mit enormem Manipulationspotenzial.
Hier sei ein heterogenes, aber vernetztes System entstanden, das Elemente von Esoterik, extremem Individualismus, rechter Ideologie und angeblich „alternativen Medien“ vereint – mit wachsendem Einfluss auf eine desinformierte, krisenerschöpfte Bevölkerung.
Toxische Männerbilder und Gewalt unter dem Deckmantel des Coachings
Besondere Brisanz birgt der Teil des Berichts, der sich mit sogenannten Online-Coaches befasst. Unter dem Versprechen, „reich und glücklich“ zu werden, verkaufen Influencer wie Andrew Tate oder Markus Streinz dubiose Kurse – teilweise zu Preisen von bis zu 400.000 Euro. In mehreren Fällen wurden schwere Gewaltakte und sogar sexuelle Übergriffe gemeldet, die von Tätern als „reinigende Rituale“ gerechtfertigt wurden. Die Bundesstelle spricht von einer „alarmierenden Entwicklung“ und fordert Plattformanbieter auf, ihrer Verantwortung zur Löschung strafrechtlich relevanter Inhalte endlich gerecht zu werden.
Scientology und neue Netzwerke greifen gezielt nach Jugendlichen
Auch altbekannte Akteure wie die Scientology-Vorfeldorganisation „Sag Nein zu Drogen“ sind weiterhin aktiv – sogar an Schulen und auf Veranstaltungen wie dem Donauinselfest. Gleichzeitig entstehen neue Netzwerke wie „764“, das gezielt über Spieleplattformen Kontakt zu Minderjährigen aufnimmt und diese zu selbstschädigendem Verhalten drängt. Schiesser sprach in diesem Zusammenhang von einer „völlig neuen Form digitaler Radikalisierung“.
Ein Frühwarnsystem mit wachsender Bedeutung
Familienministerin Claudia Plakolm lobte die Arbeit der Bundesstelle als unverzichtbar: Sie sei ein kompetentes Warnsystem und eine zentrale Anlaufstelle für Betroffene und Behörden. Das Budget werde auf 700.000 Euro jährlich erhöht – allerdings sei unklar, ob das erfolgreiche Online-Monitoring weitergeführt werden könne. Plakolm betonte, dass es entscheidend sei, zwischen Religionsfreiheit und ideologisch motivierter Gefährdung zu unterscheiden.
Ulrike Schiesser stellte klar: Es gehe nicht um Kritik an konservativen Lebensentwürfen, sondern um das Kindeswohl und die Wahrung von Wahlfreiheit. Wenn Kinder in ideologisierten Gemeinschaften aufwachsen, ohne Bildung, ohne soziale Kontakte und ohne Zugang zu pluralen Informationen, sei das eine ernsthafte Gefährdung – für das Individuum und für die Gesellschaft insgesamt.
Fazit
Der Sektenbericht 2024 zeigt eindringlich: Die Gefahr durch esoterische Heilsversprechen, ideologisch verbrämte Coaching-Angebote und sektiererische Gruppierungen wächst – online wie offline. Wer diese Entwicklung verharmlost oder gar bagatellisiert, gefährdet den Schutz der Schwächsten in unserer Gesellschaft: der Kinder. Es ist höchste Zeit für eine entschlossene Politik, die auf Aufklärung, Regulierung und digitale Verantwortung setzt – bevor aus gefährlicher Spinnerei handfeste Gewalt wird.
Herausgeber / Quelle: Parlamentskorrespondenz Österreich ¦
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