· 

Die stille Not der Bürgergeldempfänger: Wenn Eltern beim Essen verzichten müssen

DMZ –  POLITIK  ¦ Anton Aeberhard ¦      

 

Eine neue Umfrage gibt Einblick in die Lebensrealitäten von Menschen im Bürgergeldbezug – und lässt Zweifel an der politischen Debatte aufkommen.

 

Mehr als die Hälfte der Eltern im Bürgergeld verzichtet regelmäßig auf Essen, um ihren Kindern eine Mahlzeit zu ermöglichen. Nur zwölf Prozent der befragten Empfänger fühlen sich als Teil der Gesellschaft. Und 51 Prozent haben keine Hoffnung, jemals wieder mit eigener Arbeit aus dem Bezug herauszukommen. Diese Zahlen stammen aus einer neuen Umfrage des Vereins Sanktionsfrei, die in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Verian durchgeführt wurde.

 

Die Ergebnisse werfen ein Schlaglicht auf die soziale Realität von Menschen, über die in der politischen Arena oft abstrakt diskutiert wird. Die Studie, an der 1.014 Personen teilgenommen haben, zeigt ein bedrückendes Bild: Mangelernährung, psychische Belastungen und institutionelle Entfremdung sind für viele Bürgergeldempfänger Alltag.

 

Ein Leben am Limit 

563 Euro im Monat – so viel steht einer alleinstehenden Person derzeit im Bürgergeld zu. Für viele reicht das nicht einmal für das Nötigste. Besonders dramatisch ist die Lage für Eltern. Laut Umfrage verzichten mehr als 50 Prozent von ihnen regelmäßig auf Mahlzeiten, um ihre Kinder versorgen zu können. „Ich muss entscheiden: Essen oder neue Schuhe für mein Kind“, schreibt eine Befragte.

 

77 Prozent empfinden ihre finanzielle Lage als psychisch belastend. 28 Prozent haben Angst, ihre Wohnung zu verlieren. Fehlende Kinderbetreuung, körperliche Einschränkungen und psychische Erkrankungen gehören zu den häufigsten Hindernissen, die den Weg zurück in den Arbeitsmarkt versperren. Die Hoffnung, durch eigene Erwerbsarbeit wieder unabhängig zu werden, ist bei der Mehrheit geschwunden.

 

Keine individuelle Förderung 

Die Umfrage deutet auch auf strukturelle Probleme in den Jobcentern hin. Nur 16 Prozent der Befragten geben an, individuell gefördert zu werden. Die Qualität der Betreuung scheint stark vom jeweiligen Sachbearbeiter abzuhängen. Während 32 Prozent die Behandlung durch das Jobcenter als gerecht empfinden, widersprechen 29 Prozent – der Rest bleibt unentschieden.

 

Trotzdem halten sich laut Umfrage 73 Prozent der Befragten an ihre Pflichten gegenüber dem Jobcenter – unabhängig davon, ob Sanktionen drohen oder nicht. Die Behauptung, viele Bürgergeldempfänger wollten gar nicht arbeiten, wird damit deutlich relativiert.

 

Zwischen politischem Streit und realer Not 

In der politischen Debatte ist das Bürgergeld weiter umstritten. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann fordert eine grundlegende Reform mit strengeren Sanktionen. Die SPD weist dies zurück: „Linnemann ignoriert die Realität vieler Menschen“, sagte die SPD-Fraktionsvorsitzende Dagmar Schmidt. Vollsanktionen seien ohnehin nur noch in eng begrenzten Fällen möglich.

 

Die Grünen werfen der Union vor, Menschen im Bürgergeld pauschal zu verurteilen. Die Linke fordert eine Grundsicherung, die nicht kontrolliert, sondern befähigt. Jessica Tatti vom Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) mahnt, dass viele Politiker ein völlig verzerrtes Bild von Bürgergeldempfängern hätten. Ihre Forderung: mehr Weiterbildung, weniger Misstrauen – und vor allem: passende Angebote.

 

Die FDP fordert unterdessen, pauschale Zahlungen für Miete und Heizung einzuführen, um Bürokratie abzubauen. Die AfD spricht sich für eine drastische Verschärfung der Sanktionen aus.

 

Ein System, das sich selbst zementiert 

Laut Steffen Mehnert, Sozialberater bei der Caritas in Berlin, sei das Bürgergeld ein „komplexes, sich selbst erhaltendes System“. Viele Betroffene sähen für sich keine Perspektive mehr – eine Folge jahrelanger Enttäuschung und Stillstand. Die wenigen, die es schaffen, aus dem Bürgergeld herauszukommen, sind Ausnahmen: Studien zufolge gelingt das jährlich nur rund sieben Prozent der arbeitsfähigen Leistungsbezieher.

 

Obwohl die Umfrage nicht repräsentativ ist – Teilnehmende wurden online rekrutiert, Menschen mit Migrationshintergrund sind unterrepräsentiert – wurde sie soziodemografisch gewichtet. Der Aussagewert sei laut den Autoren daher dennoch hoch.

 

Die neue Umfrage offenbart eine soziale Realität, die in der politischen Diskussion kaum Beachtung findet. Während über Sanktionen, Fehlanreize und „Leistungsmissbrauch“ gestritten wird, kämpfen viele Bürgergeldempfänger ums Überleben – im wörtlichen Sinn. Vor allem Eltern, die beim Essen sparen, um ihre Kinder satt zu bekommen, stehen sinnbildlich für ein System, das an seinen Schwächsten versagt. Die kommende Reform des Bürgergeldes wird zeigen müssen, ob die Politik bereit ist, diese Realität endlich zur Kenntnis zu nehmen.


Fehler- und Korrekturhinweise

Wenn Sie einen Fehler entdecken, der Ihrer Meinung nach korrigiert werden sollte, teilen Sie ihn uns bitte mit, indem Sie an intern@mittellaendische.ch schreiben. Wir sind bestrebt, eventuelle Fehler zeitnah zu korrigieren, und Ihre Mitarbeit erleichtert uns diesen Prozess erheblich. Bitte geben Sie in Ihrer E-Mail die folgenden Informationen sachlich an:

  • Ort des Fehlers: Geben Sie uns die genaue URL/Webadresse an, unter der Sie den Fehler gefunden haben.
  • Beschreibung des Fehlers: Teilen Sie uns bitte präzise mit, welche Angaben oder Textpassagen Ihrer Meinung nach korrigiert werden sollten und auf welche Weise. Wir sind offen für Ihre sinnvollen Vorschläge.
  • Belege: Idealerweise fügen Sie Ihrer Nachricht Belege für Ihre Aussagen hinzu, wie beispielsweise Webadressen. Das erleichtert es uns, Ihre Fehler- oder Korrekturhinweise zu überprüfen und die Korrektur möglichst schnell durchzuführen.

Wir prüfen eingegangene Fehler- und Korrekturhinweise so schnell wie möglich. Vielen Dank für Ihr konstruktives Feedback!


 

Unterstützen Sie uns jetzt!

Seit unserer Gründung steht die DMZ für freien Zugang zu Informationen für alle – das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Wir möchten, dass jeder Mensch kostenlos faktenbasierte Nachrichten erhält, und zwar wertfrei und ohne störende Unterbrechungen.

Unser Ziel ist es, engagierten und qualitativ hochwertigen Journalismus anzubieten, der für alle frei zugänglich ist, ohne Paywall. Gerade in dieser Zeit der Desinformation und sozialen Medien ist es entscheidend, dass seriöse, faktenbasierte und wissenschaftliche Informationen und Analysen für jedermann verfügbar sind.

Unsere Leserinnen und Leser machen uns besonders. Nur dank Ihnen, unserer Leserschaft, existiert die DMZ. Sie sind unser größter Schatz.

Sie wissen, dass guter Journalismus nicht von selbst entsteht, und dafür sind wir sehr dankbar. Um auch in Zukunft unabhängigen Journalismus anbieten zu können, sind wir auf Ihre Unterstützung angewiesen.

Setzen Sie ein starkes Zeichen für die DMZ und die Zukunft unseres Journalismus. Schon mit einem Beitrag von 5 Euro können Sie einen Unterschied machen und dazu beitragen, dass wir weiterhin frei berichten können.

Jeder Beitrag zählt. Vielen Dank für Ihre Unterstützung!


Kommentare: 0