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Straumanns Fokus am Wochenende - Vielleicht, vielleicht auch nicht

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦

KOMMENTAR

 

Das haben Sie auf dieser Seite vor kurzem schon gelesen: Ja, es gibt wohl kein Volk auf dieser Erde, dem im Laufe der letzten 2000 Jahre so viel Unrecht geschehen ist wie den Juden. Seit die Römer sie 70 n.Chr. durch die Zerstörung der Tempel in die Diaspora gezwungen haben, sind sie die ewigen Wanderer, immer in der Minderheit, immer auffällig durch ihre strengen Riten, immer verfolgt und zum Sündenbock gemacht: 1095, als Papst Urban II. den ersten Kreuzzug ausgerufen hat, 1348, als der Schwarze Tod wütete und sie beschuldigt wurden, die Brunnen vergiftet zu haben, 1492, als in Spanien unter dem Titel der Reconquista ein eigentlicher Holocaust stattfand – bis hin in die Zeit des Nationalsozialismus, als dieser Begriff seine aktuellste Bedeutung erhielt. Das alles ist so.

 

Wieviel Recht auf Vergeltung gibt das dem heutigen Staat Israel? Gar keines. Altes Unrecht kann nie durch neues Unrecht abgegolten werden, jeglichem Talionsprinzip zum Trotz (Auge um Auge, Zahn und Zahn). Und schon gar nicht im Falle Israels durch Unrecht gegenüber der Farsi-Welt oder derjenigen der Araber, die über Jahrhunderte mit den Juden friedlich koexistierten; wer den Juden das schlimmste Unrecht angetan hat, waren samt und sonders die Europäer. Es gibt einen Anspruch darauf, dass den Juden Gerechtigkeit widerfahren soll, selbstverständlich. Aber Rache und Rechts-Usurpation sind ganz andere Dinge. Völlig abgesehen, dass wir, so fragend, in einen heillosen Begriffswirrwarr stürzen: Das Volk der Juden und der sie begleitende Antisemitismus (nebenbei betrachtet gibt es auch den Philosemitismus…) sind anders zu beurteilen als der Staat Israel oder der Zionismus, der diesen Staat geschaffen hat und dabei die Katastrophe der Nakba bewirkte (arabisch für die grosse Katastrophe – die Vertreibung von fast einer Million Palästinenser).

 

Oder, um anders zu fragen: Wie lange wird der Westen den notorischen Völkerrechtsverletzer Benjamin Netanjahu noch vom Holocaust-Bonus zehren lassen, der ihm dessen schlechtes Gewissen verschafft? Das müsste eine rhetorische Frage sein. Der Bonus, wenn es ihn je gab, ist längst aufgebraucht. Dass die Bundesrepublik soweit gegangen ist, das Wohlergehen Israels zur eigenen Staatsräson zu erheben, einschliesslich der Totaltoleranz gegenüber sämtlichen Verbrechen, die spätestens seit dem 6-Tage-Krieg von 1967 von Israel begangen wurden und werden, ist ein Hohn auf jegliches Rechtsempfinden.

 

Ich übertreibe? Man mag diese Anschlussfrage bewerten im Lichte eines Posts, das ein Journalist eines israelischen Fernsehsenders am 27. Februar dieses Jahres auf X ausgebracht hat. Der Autor ist ein bekannter israelischer Fernsehproduzent des rechtslastigen «Kanals 14», etwa vergleichbar dem amerikanischen Sender FOX. Der Autor heisst Elad Barashi. Sein Post lautete wie folgt: «Gaza befindet sich im Todestrakt. 2,6 Millionen Terroristen in Gaza sind zum Tode verurteilt. Sie verdienen den Tod. Menschen, Frauen, Kinder, auf jede erdenkliche Weise. Lasst es einen Holocaust in Gaza geben. Ja, lesen Sie das ruhig noch einmal. H-O-L-O-C-A-U-S-T. Wenn man mich fragt, so braucht es Gaskammern, Zugwaggons und andere grausame Arten des Todes für diese Nazis. Überfahren, ausrotten, abschlachten, dem Erdboden gleich machen, demontieren, zerschmettern. Ohne Gewissen und Gnade sind Kinder und Eltern, Frauen und Mädchen zu einem grausamen und schweren Tod verurteilt. Gaza verdient den Tod. Lasst es einen Holocaust in Gaza geben.» Der Mann ist ein Starmoderator, sein Sender gilt in Israel als besonders Netanjahu-nah.

 

Seit einer Woche führt dessen Regierung Krieg im Iran. Offenbar war dort der Aufbau von Atomwaffen im Gang. Dem wollte man Einhalt gebieten. Das präsentierte man der Weltöffentlichkeit als Casus belli. Abgesehen davon, dass niemand weiss (israelische und amerikanische Geheimdienste widersprechen sich), wie weit diese Arbeiten schon fortgeschritten gewesen sein sollen, glaubt kein Mensch, dass an einen monokausalen Kriegsgrund. Wollte man das Mullah-Regime (dessen Legitimität in Zweifel zu ziehen ist wie das israelische und das in der iranischen Bevölkerung nur noch minimalen Rückhalt geniesst) von der Bildfläche fegen? Oder erfüllt sich Bibi mit dem Krieg gegen den Iran schlicht einen Kindheitstraum, unter Ausnützung der Gunst der Stunde, weil die Hamas und die Hizbollah so gut wie ausgerottet sind? Oder spielen alle diese Interessen zusammen, um den Holocaust in Gaza durchzuziehen und ein Grossisrael entstehen zu lassen? Niemand hat so viel Expertise darin, vorgeschobene Kriegsgründe zu erfinden wie der sogenannte Wertewesten, von den torpedierten US-Kreuzern im Golf von Tonking 1964 bis zu den aus Brutkästen gerissenen Babies beim zweiten Golfkrieg in Kuwait (1990). Alles freier Phantasie entsprungen, um vor der demokratischen Öffentlichkeit Kriege zu legitimieren.

 

Und was macht die westliche Welt angesichts dessen, was niemand mehr bestreiten kann? Er macht, was er immer macht: Er liefert Waffen, noch mehr Waffen, und lügt, dass sich die Balken biegen. Während man den Krieg Russlands gegen die Ukraine – zu Recht – als völkerrechtswidrig darstellt, weil dieser Krieg gegenüber einer realen Bedrohung (bevorstehender Aufbau von NATO-Raketen an der ukrainisch-russischen Grenze, sodass Russland keine Vorwarnzeit geblieben wäre) offensiv geführt wird, legitimiert man den Offensivkrieg Israels gegen den Iran mit der Begründung, auf der anderen Seite sei halt eine reale Gefahr im Aufbau begriffen.

 

Kann hier noch jemand folgen?

 

Zur Schlüsselfigur wird einmal mehr der amerikanische Präsident, von Anfang her in Netanjahus Pläne eingeweiht, allen anderslautenden Aussagen zum Trotz. Das heisst: So weit man von Plänen sprechen kann, denn bezüglich allem, was über den Krieg hinausgeht, sind keine Pläne ersichtlich. Hauptsache Krieg. Netanjahu treibt Trump, den Commander-in-Chief der mächtigsten Armee der Welt, wie die Sau durchs Dorf. Trump wirkt völlig hilflos. Hin und hergeschoben zwischen aussen- und innenpolitischen Interessen, von Netanjahu, von Putin, von der EU, weiss er nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Vielleicht, vielleicht auch nicht, wird er die amerikanischen Bomben zur endgültigen Ausmerzung iranischer Atomwaffen liefern. Vielleicht, vielleicht auch nicht, wer soll das wissen. So Trump himself.

 

Er selbst am allerwenigsten. Morgen wird er entscheiden müssen. Er wird es spontan tun, aus dem Bauch heraus. Das Überleben der Welt kann davon abhängen.

 

 

 

 

 

 

 

 

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Seit 2020 können Sie in der „DMZ“ Woche für Woche die Kommentare von Dr. Reinhard Straumann verfolgen. Seine Themen reichen von Corona über amerikanische Außen- und schweizerische Innenpolitik bis hin zur Welt der Medien. Dabei geht Straumann stets über das hinaus, was in den kommerziellen Mainstream-Medien berichtet wird. Er liefert Hintergrundinformationen und bietet neue Einblicke, häufig mit Verweisen auf Literatur und Philosophie.

 

Dr. Reinhard Straumann ist Historiker und verfügt über das nötige Fachwissen. Als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich zudem jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen engagiert. Wir freuen uns, dass Reinhard Straumann regelmäßig zum Wochenende einen festen Platz in der DMZ unter dem Titel „Straumanns Fokus am Wochenende“ hat.

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