
DMZ – JUSTIZ ¦ Anton Aeberhard ¦
Ein Urteil des Hessischen Landessozialgerichts setzt neue Maßstäbe für die Angemessenheitsprüfung bei Unterkunftskosten für Bürgergeldempfänger. Die bisherige Praxis der Jobcenter, sich auf statistisch fragwürdige Modelle zu stützen, wurde in zentralen Punkten verworfen.
Wer Bürgergeld bezieht, muss sich auf eine restriktive Verwaltungspraxis einstellen – insbesondere wenn es um die Übernahme der Wohnkosten geht. Doch nicht selten beruhen die sogenannten Mietobergrenzen, die Jobcenter ansetzen, auf Konzepten, die mit der realen Wohnraumsituation wenig zu tun haben. Das Hessische Landessozialgericht (LSG) hat nun ein wegweisendes Urteil gefällt, das die bisherige Berechnungspraxis deutlich infrage stellt (Az.: L 9 AS 138/19).
Kritik an nicht repräsentativen Berechnungsgrundlagen
In dem verhandelten Fall hatte eine Bürgergeldbezieherin gegen die Kürzung ihrer Unterkunftskosten durch das zuständige Jobcenter geklagt. Dieses hatte lediglich 304,72 Euro Bruttokaltmiete für angemessen erachtet, obwohl die tatsächlichen Kosten der Wohnung bei 406,60 Euro lagen. Die Differenz wollte das Jobcenter nicht übernehmen. Es berief sich dabei auf ein Angemessenheitskonzept, das von einem externen Dienstleister erstellt wurde.
Das LSG wies jedoch darauf hin, dass dieses Konzept methodische Mängel aufweise und nicht als schlüssig zu bewerten sei. Insbesondere bemängelten die Richter die fehlende Repräsentativität der erhobenen Daten: Lediglich 1,4 Prozent der ausgewerteten 7.433 Mietwerte stammten von privaten Vermietern, obwohl diese rund 60 Prozent des Wohnungsmarkts in der Region abdecken. Der Versuch, dieses Ungleichgewicht mittels eines Gewichtungsverfahrens auszugleichen, wurde vom Gericht als unzureichend bewertet.
Quelle: Hessisches Landessozialgericht, Urteil vom 21. März 2024 – L 9 AS 138/19
Fehlender Bezug zur Realität des Wohnungsmarktes
Ein weiterer zentraler Kritikpunkt war, dass das Konzept keinen realistischen Bezug zur tatsächlichen Verfügbarkeit von Wohnungen im unteren Preissegment herstellte. Das Gericht stellte klar: Es reiche nicht aus, abstrakte Grenzwerte rechnerisch zu ermitteln, wenn gleichzeitig nicht geprüft werde, ob zu diesen Preisen überhaupt Wohnungen verfügbar sind. Damit bestätigte das Gericht eine Linie, die zuvor bereits vom Bundessozialgericht vorgezeichnet wurde (BSG, Urteil vom 30.01.2019 – B 14 AS 41/18 R).
Das LSG wählte stattdessen einen alternativen Referenzwert und orientierte sich an den sogenannten Wohngeldhöchstbeträgen, erhöht um einen Sicherheitszuschlag von zehn Prozent. In der Folge wurde festgestellt, dass der Klägerin monatlich 363 Euro zustünden – knapp 60 Euro mehr, als das Jobcenter bewilligt hatte.
Neue Anforderungen an Jobcenter
Das Urteil hat weitreichende Konsequenzen für die Praxis der Jobcenter. Diese sind künftig gehalten, nicht nur abstrakt angemessene Mietobergrenzen zu ermitteln, sondern dabei auch sicherzustellen, dass der Vergleichsraum korrekt gewählt wird und die erhobenen Daten die tatsächliche Marktlage abbilden. Das Gericht betonte außerdem, dass innerhalb eines Stadtgebiets keine künstliche Unterteilung in sogenannte "Wohnungsmarkttypen" mit unterschiedlichen Mietobergrenzen erfolgen dürfe, wenn hierfür keine rechtliche Grundlage besteht.
Hintergrund: Unterkunftskosten im Bürgergeld-System
Gemäß § 22 SGB II übernimmt das Jobcenter die "angemessenen" Kosten für Unterkunft und Heizung. Was als angemessen gilt, wird oft über sogenannte „schlüssige Konzepte“ ermittelt – Berechnungsmodelle, die regelmäßig Anlass für gerichtliche Auseinandersetzungen bieten. Zentral dabei ist, ob diese Konzepte den Anforderungen der Rechtsprechung entsprechen, insbesondere hinsichtlich Transparenz, Nachvollziehbarkeit und Repräsentativität.
Fazit: Das Urteil aus Hessen macht deutlich, dass die Spielräume der Jobcenter bei der Festlegung von Mietobergrenzen nicht unbegrenzt sind. Daten müssen belastbar, Märkte realitätsnah erfasst und Maßnahmen verhältnismäßig sein. Für Bürgergeldbezieher bedeutet das mehr Rechtssicherheit – für die Jobcenter hingegen einen höheren Aufwand bei der Erstellung rechtssicherer Berechnungsgrundlagen.
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