
DMZ – JUSTIZ ¦ Sarah Koller ¦
Berlin – Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) will an der umstrittenen Praxis festhalten, Asylsuchende direkt an der Grenze abzuweisen – und das, obwohl das Berliner Verwaltungsgericht erst vor wenigen Tagen diese Vorgehensweise für rechtswidrig erklärt hat. Konkret ging es in dem Urteil um drei somalische Staatsangehörige, die ohne individuelle Prüfung ihrer Asylgründe nach Polen zurückgeschickt worden waren.
Dobrindt reagierte gelassen auf die richterliche Entscheidung und sprach von einer „Einzelfallbewertung“, die man sorgfältig prüfen wolle. Auf Nachfrage kündigte er an, dass sein Ministerium die rechtlichen Grundlagen der Zurückweisungen „zeitnah und transparent“ erläutern werde.
Rechtslage und juristische Einordnung
Das Berliner Verwaltungsgericht hatte deutlich gemacht: Auch bei sogenannten Dublin-Fällen, also bei Menschen, die über einen anderen EU-Staat eingereist sind, muss Deutschland in jedem Einzelfall prüfen, ob eine Rückführung zulässig ist. Eine pauschale Zurückweisung an der Grenze – ohne diese Prüfung – verstoße gegen geltendes europäisches und nationales Asylrecht. Die Richter beriefen sich auf die Dublin-III-Verordnung sowie auf das Grundrecht auf Asyl.
Dobrindt hingegen sieht sich im Recht. Zur Begründung verweist er unter anderem auf Artikel 72 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), der es Mitgliedstaaten erlaubt, bei „Gefährdung der öffentlichen Sicherheit“ nationale Maßnahmen zu ergreifen. Doch Rechtsexperten wie die Verfassungsjuristin Prof. Dr. Susanne Baer warnen: „Artikel 72 ist kein Freifahrtschein für pauschale Zurückweisungen. Solche Ausnahmetatbestände müssen sehr eng ausgelegt werden – und genau das tun die Gerichte bislang auch.“
Kritik aus dem Bundestag
Der politische Widerstand gegen Dobrindts Linie wächst. Irene Mihalic, parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, sprach von einer „schallenden Ohrfeige für die Bundesregierung“ und forderte den sofortigen Stopp der Zurückweisungen: „Das Urteil zeigt, dass sich die aktuelle Praxis außerhalb des Rechts bewegt.“
Auch aus der SPD kommen mahnende Töne. Innenexperte Lars Castellucci äußerte sich gegenüber dem Tagesspiegel besorgt über das fehlende europäische Einvernehmen: „Solche Alleingänge schaden nicht nur unserer Glaubwürdigkeit, sondern gefährden die gemeinsame Asylpolitik in der EU.“
FDP-Chef Christian Lindner warnte vor einem „gefährlichen Präzedenzfall“. Europa könne nur dann gemeinsam handeln, wenn sich alle Länder an die Spielregeln hielten – auch Deutschland.
Internationale Reaktionen und mögliche Folgen
Die Diskussion bleibt nicht auf Deutschland beschränkt. Gerald Knaus, Vorsitzender der Denkfabrik European Stability Initiative, befürchtet einen Dominoeffekt: „Wenn Deutschland beginnt, Menschen ohne Prüfung zurückzuweisen, könnte das auch andere Mitgliedstaaten ermutigen, das europäische Asylrecht zu ignorieren. Damit wäre ein zentrales Fundament der EU infrage gestellt.“
Die Europäische Kommission wollte sich zu dem konkreten Fall zunächst nicht äußern, ließ jedoch über einen Sprecher mitteilen, dass „alle Mitgliedstaaten verpflichtet sind, das gemeinsame europäische Asylsystem zu achten und umzusetzen“.
Dass ein Bundesminister eine gerichtliche Entscheidung offen relativiert, ist ungewöhnlich – und wird in rechtsstaatlichen Demokratien zurecht kritisch betrachtet. Zwar ist es legitim, über die Belastungsgrenzen des Asylsystems zu diskutieren. Doch es ist ebenso legitim, vom Staat zu erwarten, dass er sich an geltendes Recht hält.
Ob Dobrindts Linie rechtlich haltbar ist, wird sich möglicherweise bald vor dem Bundesverfassungsgericht entscheiden. Politisch aber ist die Debatte längst eröffnet – und dürfte in den kommenden Wochen weiter an Schärfe gewinnen.
Fehler- und Korrekturhinweise
Wenn Sie einen Fehler entdecken, der Ihrer Meinung nach korrigiert werden sollte, teilen Sie ihn uns bitte mit, indem Sie an intern@mittellaendische.ch schreiben. Wir sind bestrebt, eventuelle Fehler zeitnah zu korrigieren, und Ihre Mitarbeit erleichtert uns diesen Prozess erheblich. Bitte geben Sie in Ihrer E-Mail die folgenden Informationen sachlich an:
- Ort des Fehlers: Geben Sie uns die genaue URL/Webadresse an, unter der Sie den Fehler gefunden haben.
- Beschreibung des Fehlers: Teilen Sie uns bitte präzise mit, welche Angaben oder Textpassagen Ihrer Meinung nach korrigiert werden sollten und auf welche Weise. Wir sind offen für Ihre sinnvollen Vorschläge.
- Belege: Idealerweise fügen Sie Ihrer Nachricht Belege für Ihre Aussagen hinzu, wie beispielsweise Webadressen. Das erleichtert es uns, Ihre Fehler- oder Korrekturhinweise zu überprüfen und die Korrektur möglichst schnell durchzuführen.
Wir prüfen eingegangene Fehler- und Korrekturhinweise so schnell wie möglich. Vielen Dank für Ihr konstruktives Feedback!
Unterstützen Sie uns jetzt!
Seit unserer Gründung steht die DMZ für freien Zugang zu Informationen für alle – das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Wir möchten, dass jeder Mensch kostenlos faktenbasierte Nachrichten erhält, und zwar wertfrei und ohne störende Unterbrechungen.
Unser Ziel ist es, engagierten und qualitativ hochwertigen Journalismus anzubieten, der für alle frei zugänglich ist, ohne Paywall. Gerade in dieser Zeit der Desinformation und sozialen Medien ist es entscheidend, dass seriöse, faktenbasierte und wissenschaftliche Informationen und Analysen für jedermann verfügbar sind.
Unsere Leserinnen und Leser machen uns besonders. Nur dank Ihnen, unserer Leserschaft, existiert die DMZ. Sie sind unser größter Schatz.
Sie wissen, dass guter Journalismus nicht von selbst entsteht, und dafür sind wir sehr dankbar. Um auch in Zukunft unabhängigen Journalismus anbieten zu können, sind wir auf Ihre Unterstützung angewiesen.
Setzen Sie ein starkes Zeichen für die DMZ und die Zukunft unseres Journalismus. Schon mit einem Beitrag von 5 Euro können Sie einen Unterschied machen und dazu beitragen, dass wir weiterhin frei berichten können.
Jeder Beitrag zählt. Vielen Dank für Ihre Unterstützung!
Kommentar schreiben