AT: Aufarbeitung eines düsteren Kapitels – Die Rolle der Salzburger Landesheilanstalt im Nationalsozialismus

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DMZ – HISTORISCHES ¦ Lena Wallner(c) Parlamentsdirektion/ Johannes Zinner 

 

Wien – Mit der eindrucksvollen Buchpräsentation „Die Rolle der Landesheilanstalt Salzburg vor, während und nach dem NS-Regime“ rückte das österreichische Parlament am Dienstagabend ein bislang wenig beachtetes Kapitel der NS-Vergangenheit in den Fokus: Die Verbrechen an psychisch kranken Menschen im Umfeld der heutigen Christian-Doppler-Klinik. Im Zentrum der Publikation stehen rund 264 ermordete Patientinnen und Patienten, deren Schicksale anhand von etwa 28.000 Krankenakten rekonstruiert wurden – und die damit endlich ihre Namen, Lebensgeschichten und einen Platz im kollektiven Gedenken zurückerhalten.

 

Die Veranstaltung im Palais Epstein war geprägt von tiefem historischen Ernst und dem Appell zur Verantwortung. Bundesratspräsidentin Andrea Eder-Gitschthaler betonte in ihrer Eröffnungsrede die Notwendigkeit eines generationenübergreifenden, ehrlichen Umgangs mit der Geschichte: „Dieses Buch ist mehr als eine wissenschaftliche Dokumentation. Es ist ein gedrucktes Mahnmal – und ein Aufruf, unsere Demokratie auf dem Fundament historischer Wahrheit zu stärken.“

 

Verantwortlich für die aufwändige Rekonstruktion ist Oskar Dohle, Direktor des Salzburger Landesarchivs. Gemeinsam mit einem interdisziplinären Team sichtete er rund 50.000 Krankenakten – ein Großteil davon unter gesundheitlich herausfordernden Bedingungen, da die historischen Unterlagen zunächst aufgrund von Schimmelbefall dekontaminiert werden mussten. Die systematische Analyse ermöglichte nicht nur die Identifikation der NS-Opfer, sondern auch eine differenzierte Darstellung der strukturellen und personellen Kontinuitäten über die Zeit des Nationalsozialismus hinaus.

 

„Die Verbrechen geschahen nicht im luftleeren Raum“, erklärte Dohle in seiner Keynote. Bereits in der Monarchie seien „erbbiologische Erfassungen“ vorgenommen worden. Die daraus hervorgehenden ideologischen Denkmuster überdauerten nicht nur das NS-Regime, sondern beeinflussten das medizinische und gesellschaftliche Denken auch in der Nachkriegszeit.

 

In einer anschließenden Podiumsdiskussion vertieften Dohle, die Historikerin Barbara Huber (Universität Salzburg), Markus Rachbauer vom Lern- und Gedenkort Schloss Hartheim sowie Neurologe Eugen Trinka (Christian-Doppler-Klinik) die Frage nach dem ideologischen und institutionellen Nährboden der NS-Verbrechen. Konsens herrschte darüber, dass ein schon lange vor 1938 etabliertes sozialdarwinistisches Weltbild, das die Schwächeren als Belastung für die „gesunde Gesellschaft“ betrachtete, den Boden für Ausgrenzung und Mord bereitete. „Die NS-Täter mussten kein neues Klima schaffen – sie konnten an bestehende Diskurse anknüpfen“, betonte Rachbauer.

 

Besonders erschütternd sei die Ambivalenz innerhalb der Ärzteschaft, wie Trinka unterstrich. Es habe zwar auch Stimmen der Humanität gegeben, doch viele Mediziner seien Mitwirkende oder zumindest Mitwisser der Verbrechen gewesen. Der pragmatische Umgang mit diesen Kontinuitäten nach 1945, etwa im Rahmen der Entnazifizierung, verstärkte laut Barbara Huber das Schweigen: Nur ein kleiner Teil der 50 bekannten NSDAP-Mitglieder an der Salzburger Anstalt wurde überhaupt aus dem Dienst entfernt.

 

Die Publikation macht nicht nur auf schmerzhafte historische Realitäten aufmerksam, sondern verfolgt ein explizit erinnerungspolitisches Anliegen. Anhand von Adressen und Deportationsdaten der Opfer wurde versucht zu rekonstruieren, wo diese Menschen heute leben würden – mit dem Ziel, in deren einstigem Wohnumfeld ein würdevolles Gedenken zu ermöglichen.

 

Die Diskussionsteilnehmer:innen betonten die Notwendigkeit eines „nachhaltigen Gedenkens“, das über symbolische Akte hinausgeht. Es müsse darum gehen, gesellschaftliche Konstellationen zu analysieren, die Ausgrenzung und Entrechtung ermöglichen – damals wie heute. In Zeiten, in denen demokratische Errungenschaften erneut unter Druck geraten, sei der Blick zurück ein notwendiger Schritt, um die Gegenwart verantwortungsvoll zu gestalten.

 

Mit der Buchpräsentation im Parlament wurde nicht nur wissenschaftliche Aufarbeitung geleistet – sie war auch ein deutliches Signal politischer und gesellschaftlicher Wachsamkeit. Die Vergangenheit mag nicht mehr veränderbar sein, aber die Schlussfolgerungen daraus können die Zukunft entscheidend prägen.

 

 

 

 

Herausgeber / Quelle: Parlamentskorrespondenz Österreich ¦ 


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