
DMZ – FORSCHUNG ¦ Lena Wallner ¦
Neue Perspektiven für gesunde Innenräume
Australisches Forschungsteam entwickelt realistisches Modell zur Berechnung von Infektionsrisiken – und stellt gängige Annahmen infrage
Was passiert, wenn sich in einem Klassenraum mit 22 Personen eine einzelne infizierte Person aufhält – etwa mit einer durch die Luft übertragenen Krankheit wie COVID-19? Wie schnell verteilt sich das Virus in der Luft, und wie lange kann man sich dort aufhalten, ohne sich anzustecken? Fragen wie diese haben Forschende schon früh in der Pandemie beschäftigt. Die meisten bisher eingesetzten Modelle gingen dabei von einem Idealzustand aus: gleichmäßig verteilte Luft, also ein vollständig durchmischter Raum.
Doch diese Annahme greift zu kurz – das zeigt ein Team der University of New South Wales in einer neuen Studie, veröffentlicht in der Fachzeitschrift Building and Environment. Die Forschenden um M.M.A. Mahmoud haben ein Modell entwickelt, das deutlich näher an der Wirklichkeit liegt. Es kombiniert reale Messdaten mit strömungsmechanischen Simulationen (CFD), um die Verteilung infektiöser Aerosole im Raum nicht nur im Durchschnitt, sondern konkret in Ort und Zeit zu erfassen.
Heterogene Luft, unterschiedliche Risiken
Der Clou an dem neuen Modell: Es geht nicht mehr um hypothetische Mittelwerte, sondern um tatsächliche Unterschiede im Raum. Denn die Luft ist eben nicht überall gleich – vor allem nicht dort, wo eine infizierte Person spricht, atmet oder sich bewegt. Das Modell bezieht die Partikelgröße, das Verhalten der Aerosole und die Temperaturunterschiede im Raum mit ein. Dafür werden optische Partikelsensoren verwendet, die in Echtzeit Daten liefern.
Die Ergebnisse sind bemerkenswert: Während herkömmliche Modelle pauschal ein Infektionsrisiko von rund 14 Prozent annehmen, liegt die Wahrscheinlichkeit in unmittelbarer Nähe zur infizierten Person laut den neuen Berechnungen bei über 50 Prozent – in anderen Bereichen des Raums aber deutlich darunter. In manchen Ecken kann man sich auch nach 25 Minuten noch sicher aufhalten, während an anderen Plätzen bereits drei Viertel der Anwesenden infiziert sein könnten.
Neue Maßstäbe: Aufenthaltsdauer statt abstrakter Wahrscheinlichkeiten
Einer der spannendsten Vorschläge der Studie betrifft den Umgang mit Risiken: Statt vager Prozentwerte schlagen die Forschenden vor, künftig den „maximal sicheren Aufenthaltszeitraum“ zu berechnen. Konkret heißt das: Wie lange kann sich eine Person an einem bestimmten Ort aufhalten, ohne ein hohes Infektionsrisiko einzugehen? Diese Herangehensweise ist nicht nur praxisnäher, sondern ermöglicht auch konkrete Schutzmaßnahmen – etwa durch gezielte Sitzordnung, besser platzierte Luftfilter oder intelligente Lüftungskonzepte.
Besonders interessant: Wärmere Zonen im Raum – etwa in der Nähe von Heizkörpern oder elektronischen Geräten – fördern die Ausbreitung infektiöser Partikel. Kühle, wenig bewegte Luft hingegen kann als Schutzbarriere wirken. Solche Erkenntnisse lassen sich direkt in die Planung von Klassenräumen, Großraumbüros oder Wartebereichen einfließen.
Ein Umdenken in der Raumplanung ist überfällig
Die Studie liefert nicht nur ein neues Werkzeug, sondern stellt auch grundsätzliche Fragen: Reicht es wirklich, den CO₂-Wert in Räumen zu messen oder einfach „gut zu lüften“? Die Antwort der Forschenden ist eindeutig: nein. Pauschale Empfehlungen verfehlen die Realität. Vielmehr braucht es datengestützte, flexible Konzepte, die sich am tatsächlichen Geschehen im Raum orientieren.
Mit diesem Modell wird ein neuer Standard denkbar: präzise Risikoanalysen, die nicht nur wissenschaftlich fundiert, sondern auch im Alltag anwendbar sind. Die offene Veröffentlichung der Studie (An infection risk model for estimating infection probability and occupancy time: A CFD approach with aerosol measurements, DOI: 10.1016/j.buildenv.2025.113035) liefert dafür eine solide Grundlage.
Fazit: Mehr als ein akademisches Rechenmodell
Was nach komplexer Simulation klingt, hat handfeste Konsequenzen. Wer Schulen, Büros oder Veranstaltungsräume sicherer machen will, muss künftig stärker auf konkrete Messdaten setzen – und akzeptieren, dass Innenräume keine homogenen Boxen sind. Diese Erkenntnis kommt spät, aber gerade rechtzeitig, um aus den Fehlern der Pandemie zu lernen.

Unterstützen Sie uns jetzt!
Seit unserer Gründung steht die DMZ für freien Zugang zu Informationen für alle – das ist unser Alleinstellungsmerkmal. Wir möchten, dass jeder Mensch kostenlos faktenbasierte Nachrichten erhält, und zwar wertfrei und ohne störende Unterbrechungen.
Unser Ziel ist es, engagierten und qualitativ hochwertigen Journalismus anzubieten, der für alle frei zugänglich ist, ohne Paywall. Gerade in dieser Zeit der Desinformation und sozialen Medien ist es entscheidend, dass seriöse, faktenbasierte und wissenschaftliche Informationen und Analysen für jedermann verfügbar sind.
Unsere Leserinnen und Leser machen uns besonders. Nur dank Ihnen, unserer Leserschaft, existiert die DMZ. Sie sind unser größter Schatz.
Sie wissen, dass guter Journalismus nicht von selbst entsteht, und dafür sind wir sehr dankbar. Um auch in Zukunft unabhängigen Journalismus anbieten zu können, sind wir auf Ihre Unterstützung angewiesen.
Setzen Sie ein starkes Zeichen für die DMZ und die Zukunft unseres Journalismus. Schon mit einem Beitrag von 5 Euro können Sie einen Unterschied machen und dazu beitragen, dass wir weiterhin frei berichten können.
Jeder Beitrag zählt. Vielen Dank für Ihre Unterstützung!
Fehler- und Korrekturhinweise
Wenn Sie einen Fehler entdecken, der Ihrer Meinung nach korrigiert werden sollte, teilen Sie ihn uns bitte mit, indem Sie an intern@mittellaendische.ch schreiben. Wir sind bestrebt, eventuelle Fehler zeitnah zu korrigieren, und Ihre Mitarbeit erleichtert uns diesen Prozess erheblich. Bitte geben Sie in Ihrer E-Mail die folgenden Informationen sachlich an:
- Ort des Fehlers: Geben Sie uns die genaue URL/Webadresse an, unter der Sie den Fehler gefunden haben.
- Beschreibung des Fehlers: Teilen Sie uns bitte präzise mit, welche Angaben oder Textpassagen Ihrer Meinung nach korrigiert werden sollten und auf welche Weise. Wir sind offen für Ihre sinnvollen Vorschläge.
- Belege: Idealerweise fügen Sie Ihrer Nachricht Belege für Ihre Aussagen hinzu, wie beispielsweise Webadressen. Das erleichtert es uns, Ihre Fehler- oder Korrekturhinweise zu überprüfen und die Korrektur möglichst schnell durchzuführen.
Wir prüfen eingegangene Fehler- und Korrekturhinweise so schnell wie möglich. Vielen Dank für Ihr konstruktives Feedback!
Kommentar schreiben