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Straumanns Fokus am Wochenende - Erster Mai

DMZ – POLITIK ¦ Dr. Reinhard Straumann ¦

KOMMENTAR

 

Gute Gründe, den 1. Mai zu feiern, gibt es heute wie damals. Dass der erste Kalendertag des Wonnemonats sich als Kampftag der Arbeiterschaft etablierte und durchzusetzen begann, geht historisch auf das Jahr 1886 und geografisch ausgerechnet auf die USA zurück, die heute nicht wirklich dafür bekannt sind, Anliegen des Proletariats national zu feiern. Den kämpferischen Anfängen zum Trotz hat Nordamerika (wenn wir Mexiko zu Mittelamerika zählen, wo der 1. Mai in allen Ländern ein nationaler Feiertag ist) mit dem Tag der Arbeit gar nichts mehr am Hut. Es war eher eine Art proletarischer Entgleisung, dass die Industriemetropole Chicago sich die entsprechende Pionierrolle auf die Fahne schreiben durfte. Die Arbeitsmigration spülte damals Europäer jeglicher Herkunft zu Abertausenden auf den amerikanischen Arbeitsmarkt, und logischerweise importierten viele von ihnen sozialistisches Gedankengut, quasi zollfrei (ist man heute versucht zu sagen).

 

Am 1. Mai 1886 kam es in Chicago zum sogenannten Haymarket Riot. Anlass war die Forderung gewerkschaftlich organisierter Arbeiter, den üblichen Zwölf-Stunden-Arbeitstag (bei drei Dollar Tagesverdienst…) auf acht herunterzuschrauben. Als sie dieser Forderung mittels Streik Nachdruck verschaffen wollten, reagierten die Betriebe mit Aussperrungen. Auf einen Schlag wurden deshalb an die 1000 Arbeitsstellen frei, aber – siehe da, ein Wunder! – ganz unüblich meldeten sich nur 300 aus dem Heer der Arbeitslosen, die in die Bresche springen wollten. War das der erste grosse internationale Sieg der Gewerkschaften?

 

400‘000 Arbeiter traten in den Generalstreik, gewalttätige Auseinandersetzungen folgten und eskalierten. Am 3. Mai warf ein Unbekannter eine Bombe, die mehrere Polizisten töteten, worauf die Bosse in Allianz mit den Inhabern des staatlichen Gewaltmonopols reagierten. Man räumte auf. Die Rädelsführer („Anarchisten“) wurden verhaftet und vier davon ohne weitere Umschweife gehängt.

 

Die Parallelen zur Gegenwart sind kaum erstaunlich. Heute wie damals klaffte die Wohlstandsschere zwischen denjenigen, die der Gesellschaft nichts als ihre Arbeitskraft zur Verfügung stellen können (und es auf sich nehmen müssen, dorthin zu migrieren, wo Arbeit zur Verfügung steht), und denjenigen, die für den gleichen Arbeitsprozess das Kapital einspeisen. Die einen (die vielen!) rackern sich ab, um ihre Familien durchzubringen, und können den Absturz ins Prekariat dennoch nicht verhindern – die andern (die wenigen!) schauen zu, wie sich das investierte Kapital durch die Arbeitsleistung der vielen vermehrt.

 

Und all das vor dem Hintergrund der Drohkulisse eines bevorstehenden grossen Krieges, den sich die grossen Kapitaleigner sehnlich wünschten, weil nichts für die Arbeit von Zerstörung und Wiederaufbau mehr Gewinn verspricht als Krieg. Damals dauerte es ein Vierteljahrhundert, bis der grosse Krieg kam. Wird es jetzt auch so lange dauern?

 

Aber es gibt auch Unterschiede. Sie betreffen vor allem die Rolle der Sozialdemokratie. Vor 140 Jahren, als die SP noch ganz in ihren Anfängen steckte, verdankte sie ihren Erfolg dem Umstand ihrer klaren Standortbestimmung. Sie wusste, wo sie hingehörte und welches ihre Ziele waren. Aber heute? Nicht anders als ihrem Gegenüber unter den grossen politischen Strömungen, dem Liberalismus, ist der Sozialdemokratie die Stossrichtung abhanden gekommen, die sie ein Jahrhundert lang stark gemacht hat.

 

Wofür kämpft die SP dieser Tage? Für Gendersternchen, für Wokismus und – gemeinsam mit der antisozialen, antidemokratischen EU – für einen Krieg, der im Grunde für gar nichts steht, was ideell zur SP gehört. Ja, klar, Putins Angriff auf die Ukraine ist ein fataler Bruch des Völkerrechts, und es soll nicht so sein, dass die Aggressoren dafür auch noch belohnt werden. Aber hat die SP, die jahrzehntelang den US-amerikanischen Imperialismus gegeisselt hat, denn nicht verstanden, dass es just dieser US-amerikanische Imperialismus war, Putin in eine Situation zu bringen, die ihm (aus eigener Sicht) gar keine Alternative liess?

 

Die sukzessive Ostverlagerung der NATO (obwohl man 1990 hoch und heilig das Gegenteil versprochen hatte) bis an die russische Grenze war für Russland aus zwei strategischen Gründen nicht akzeptabel. Erstens: Die Stationierung von NATO-Mittelstreckenraketen in der Ukraine hätte Russland keine Vorwarnzeit mehr gewährt. Zweitens: Die Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO hätte zur Folge gehabt, dass das Schwarze Meer westlich wird, dass Russland also über keinen Hafen in einem „warmen“ Meer verfügt hätte. Gerade weil die USA exakt wussten, dass beide Punkte für Putin nicht verhandelbar waren, haben sie beide Absichten nach Kräften gepusht. Und als der Krieg endlich da war, als sich abzeichnete, welche Katastrophe sich entwickeln würde, haben sie das auf dem Tisch liegende Friedensangebot (Istanbul, April 2022) sofort torpediert. Von russischen Imperialismus zu sprechen, ist also so undifferenziert, dass man sagen muss: Es ist falsch.

 

Dennoch macht die SP das alles mit, die schweizerische, die deutsche, die britische (die in GB sogar den Premier stellt) und viele andere. Sie spielt damit einer neoliberalen EU in die Hände, die Milliarden in diesen Krieg pumpt und dafür alle sozialdemokratischen Anliegen untergräbt. Sie unterstützt einen entlegitimierten ukrainischen Präsidenten, der sich Yachten und Immobilien im westlichen Ausland sichert, sie fördert eine amerikanische Waffen-, Erdöl- und Erdgaslobby (ob unter Biden oder Trump!), sie akzeptiert den Tod von Abertausenden Ukrainern und Russen und sie begünstigt eine Umweltzerstörung von nie gesehenen Ausmass.

 

Weshalb macht die SP das? Weil sie sich auf eine Seite schlagen muss, da sie fürchtet, die Genossen könnten mit einem differenzierten Weltbild nicht umgehen? Sind die Genossen so doof?

 

Hätte ich heute Morgen an die 1. Mai-Kundgebung gehen sollen, um mir entsprechenden Schwachsinn anzuhören? Danke, ich bin bedient (auch abgesehen von den chaotischen Begleiterscheinungen). Ich habe den Golfplatz vorgezogen.

 

 

 

 

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Seit 2020 können Sie in der „DMZ“ Woche für Woche die Kommentare von Dr. Reinhard Straumann verfolgen. Seine Themen reichen von Corona über amerikanische Außen- und schweizerische Innenpolitik bis hin zur Welt der Medien. Dabei geht Straumann stets über das hinaus, was in den kommerziellen Mainstream-Medien berichtet wird. Er liefert Hintergrundinformationen und bietet neue Einblicke, häufig mit Verweisen auf Literatur und Philosophie.

 

Dr. Reinhard Straumann ist Historiker und verfügt über das nötige Fachwissen. Als Schulleiter an einem kantonalen Gymnasium hat er sich zudem jahrzehntelang für die politische Bildung junger Menschen engagiert. Wir freuen uns, dass Reinhard Straumann regelmäßig zum Wochenende einen festen Platz in der DMZ unter dem Titel „Straumanns Fokus am Wochenende“ hat.

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