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KOMMENTAR
Am 30. April 2025 hat der Bundesrat ein neues Kapitel in der Abrechnung ambulanter ärztlicher Leistungen aufgeschlagen. Nach jahrelangen Verhandlungen ersetzt die Einzelleistungstarifstruktur TARDOC gemeinsam mit ambulanten Pauschalen ab dem 1. Januar 2026 das bisherige System TARMED. Ein historischer Schritt – mit potenziell tiefgreifenden Folgen für das Gesundheitswesen und die Versicherten.
Ein notwendiger, aber riskanter Schritt
Die Reform war überfällig. Das seit 2004 gültige TARMED-System wurde von Fachgesellschaften, Leistungserbringern und Versicherern gleichermassen als veraltet kritisiert. Es widerspiegelt weder die heutigen medizinischen Realitäten noch den gestiegenen Aufwand in der Grundversorgung. Mit TARDOC wird die Konsultationsdauer differenzierter bewertet, die Hausarztmedizin gestärkt – das ist prinzipiell begrüssenswert. Gleichzeitig sollen Pauschalen für klar definierte Behandlungen Bürokratie abbauen und Fehlanreize reduzieren.
Kostenneutralität als Risiko für die Versorgung
Doch ein zentraler Pfeiler der Reform birgt erhebliche Risiken: Die politisch verordnete Kostenneutralität. Gemäss Bundesrat darf der Systemwechsel nicht zu einer Kostensteigerung führen; die jährliche Zunahme der ambulanten Gesamtkosten wurde auf vier Prozent gedeckelt (BAG, 2025). Dies mag fiskalisch verständlich sein – medizinisch aber könnte es problematisch werden. Denn die Vorgaben bedeuten: Neue Leistungen oder höherer Aufwand müssen an anderer Stelle eingespart werden. Besonders chronisch kranke Menschen oder komplexe Fälle könnten künftig Schwierigkeiten haben, ihre Versorgung vollumfänglich erstattet zu bekommen, wenn wirtschaftliche Vorgaben über medizinische Notwendigkeit gestellt werden.
Ein Flickenteppich droht
Die Taxpunktwerte, mit denen ärztliche Leistungen vergütet werden, werden weiterhin von den Kantonen festgelegt. Schon heute bestehen grosse regionale Unterschiede. Ohne klare nationale Steuerung könnten sich diese Unterschiede durch die neue Tarifarchitektur verschärfen – mit Folgen für die Gleichbehandlung der Versicherten, wie Gesundheitsökonomen seit Jahren warnen (vgl. Helsana-Arztbericht 2023).
Zwei Systeme erhöhen die Komplexität
TARDOC und Pauschalen werden parallel eingeführt – das erhöht die Abrechnungs- und Interpretationskomplexität. Schon jetzt sind rund 140 Pauschalen wieder gestrichen worden, weil sie nicht klar genug von Einzelleistungen abzugrenzen waren. Die verbleibenden 315 Pauschalen decken aktuell 13 Prozent der ambulanten Leistungen ab – ein hoher Anteil, wenn man bedenkt, dass jede Fehlanwendung zu Rückfragen, Unsicherheiten oder sogar Leistungskürzungen führen kann (BAG, Medienmitteilung, 30.04.2025).
Reform unter Beobachtung
Der Bundesrat hat die Genehmigung des neuen Tarifsystems befristet – bis Ende 2028. Diese Frist soll genutzt werden, um Schwächen zu korrigieren, etwa bei der Homogenität der Pauschalen oder der Infrastrukturbelastung gemäss TARDOC. Die Organisation OAAT AG wird die Entwicklungen laufend evaluieren – doch wie rasch und wirksam nachgesteuert wird, bleibt abzuwarten.
Fazit
Die Reform ist notwendig, aber auch fragil. Die Doppelbelastung aus struktureller Umstellung und politisch verordneter Kostenbremse stellt das System vor grosse Herausforderungen. Wenn der Fokus einseitig auf Ausgabenbeschränkung liegt, drohen Einschränkungen bei der Versorgung – besonders für vulnerable Patientengruppen. Entscheidend ist, ob Bund, Kantone und Tarifpartner bereit sind, frühzeitig nachzusteuern. Der Bundesrat hat ein ambitioniertes Modell genehmigt. Ob daraus ein Erfolg wird, entscheidet sich nicht auf dem Papier, sondern in der ärztlichen Praxis – und im Alltag der Patient:innen.
- Faktenblatt – Ambulanter Arzttarif: Funktionsweise und Hauptakteure PDF247.19 kB30. April 2025
- Faktenblatt Ambulanter Arzttarif Die verschiedenen Etappen PDF102.32 kB30. April 2025
- Glossar ambulanter Arzttarif PDF115.25 kB30. April 2025
Quellen:
- Bundesamt für Gesundheit (BAG), Medienmitteilung vom 30.04.2025
-
Bundesrat: Beschluss vom 19.06.2024
zur Genehmigung TARDOC / ambulante Pauschalen
- Helsana-Arztbericht 2023: Regionale Unterschiede in der medizinischen Versorgung
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