Die literarischen Schätze des Raymond Queneau

DMZ – BLICKWINKEL ¦ Peter Biro

 

Die Franzosen bezeichnen sich gern als „La Grande Nation“. Oder sie lassen sich von anderen so nennen, was nach meiner unmaßgeblichen Meinung durchaus eine gewisse Berechtigung hat. Der Grund, warum ich den Franzosen diese Selbstbezeichnung großzügigerweise zuschreibe, liegt darin, dass sie tatsächlich eine große Zahl von Genies hervorgebracht haben – sowohl in absoluten Zahlen als auch pro Kopf. Dazu zählen nicht nur Jean-François Champollion, der Entzifferer der Hieroglyphen, oder Louis Pasteur, der die Haltbarkeit von Milch erheblich zu verlängern ermöglichte, sondern auch die vielen genialen Schriftsteller, Philosophen und Enzyklopädisten … ein ganzer Abend würde nicht ausreichen, sie alle aufzuzählen. Doch im übervölkerten Olymp der französischen Koryphäen gibt es auch einige weniger bekannte Persönlichkeiten, die aufgrund ihrer besonderen Verdienste unbedingt kennenzulernen sind.

 

Eine dieser weniger bekannten Geistesgrößen des 20. Jahrhunderts war der außerordentlich begabte Poet und Schriftsteller Raymond Queneau. Ihn und einige Einblicke in sein Werk möchte ich in diesem kleinen Essay aus der dritten oder vierten Reihe der französischen „hommes de lettres“ nach vorne, ans Licht der kurzwährenden Aufmerksamkeit, zerren.

 

Raymond Queneau erblickte das fahle Licht der Normandie in Le Havre am 21. Februar 1903 als Kind von Auguste Queneau und Joséphine Mignot. Mit 17 zog er nach Paris, wo er sich dem Studium der Philosophie widmete. Nach dem Militärdienst in den nordafrikanischen Kolonien versuchte er sich in vielen Gelegenheitsjobs, unter anderem auch als Bankangestellter. Sein Hang zur Verwendung von Sprache und Text veranlasste ihn jedoch, als Übersetzer und Journalist zu arbeiten. Unter anderem schrieb er Beiträge für eine Kolumne mit dem Titel „Connaissez-vous Paris?“ für die Tageszeitung L’Intransigeant. Nach Kriegsausbruch 1939 wurde er als Reservist eingezogen und nach einer unspektakulären Teilnahme am Zusammenbruch 1940 wieder demobilisiert. Ab diesem Zeitpunkt begann er seine Arbeit als Schriftsteller, Redakteur und Literaturkritiker – eine Tätigkeit, der er bis zu seinem Ableben im Jahre 1976 in Neuilly-sur-Seine nachging. Er war die meiste Zeit seines Erwachsenenlebens mit der Surrealistin Janine Kahn verheiratet, mit der er einen Sohn, Jean-Marie, hatte, der seinerseits ein arrivierter Maler wurde.

 

Doch nun zurück zum jungen Raymond. Bereits in seiner Jugend war er von den gerade en vogue befindlichen Surrealisten fasziniert. Im Jahre 1949 schloss er sich einer kunstrebellischen Gruppe an, die sich zunächst „Collège de 'Pataphysique“ nannte. Mit Italo Calvino und anderen Gesinnungsgenossen gründete er daraufhin eine literarische Plattform namens „OuLiPo“, was auf die halbwegs sinnstiftende Zielrichtung L’Ouvroir de Littérature Potentielle (dt. Die Werkstatt für Potentielle Literatur) zurückgeht. Das Ziel der Gruppe war es, bisher unerhörte Experimente mit der französischen Sprache zu machen, so zum Beispiel Texte zu schreiben, die bestimmten, teils absurden Zwängen unterworfen waren. Ein Beispiel war ein Prosastück, in dem der Buchstabe „e“ nicht vorkommen durfte.

 

Ein erster bemerkenswerter literarischer Erfolg von Queneau war sein Pariser Stadtroman Zazie in der Métro, der im Jahre 1959 bei Gallimard erschien und nach durchschlagendem Erfolg bereits im Jahr darauf von Louis Malle verfilmt wurde. Schon das allererste Wort dieses Romans ist eine für Queneau typische Wortneuschöpfung. Die Titelheldin des Romans, das Mädchen Zazie, erforscht die lokale Umgangssprache und bekommt das Wort „Doukipudonktan“ in den Mund gelegt. Dieser inexistente Begriff ist die phonetische Ausführung von „D’où qu’ils puent donc tant?“ (dt. Warum nur stinken sie so sehr?). Zazie verbringt ein Wochenende bei ihrem Onkel in Paris und gerät in einen Strudel von immer absurderen Ereignissen. Zu Zazies Fahrt mit der Pariser Metro kommt es erst am Ende des Romans – und sie ist eigentlich eine Nebensache. Dem Autor geht es vielmehr um die mannigfache Verwendung der Umgangssprache aus der Perspektive der naiven Göre. Kennzeichnend für den Roman sind ausschweifender Wortwitz, Zitate und diverse literarische Anspielungen sowie der Einsatz verschiedener Sprachstile. Damit ist bereits angedeutet, dass Queneau die Sprache als ein plastisches Material auffasst, das man nach Belieben verformen, umdrehen, ergänzen, verkürzen oder uminterpretieren kann.

 

Raymond Queneaus höchst skurriler Gedichtband Hunderttausend Milliarden Gedichte (Cent Mille Milliards de Poèmes) von 1961 ist an Originalität kaum zu übertreffen. Dies allein schon deswegen, weil es tatsächlich zutrifft, dass er diese enorme Zahl von Gedichten beinhaltet. Nun muss man sich darunter kein kilometerlanges Bücherregal vorstellen, sondern ein relativ dünnes Bändchen, das zehn vierzehnzeilige Gedichte als Rohstoff für ein Sprachexperiment beinhaltet. Jede Buchseite ist in schmale waagerechte Streifen geschnitten, die jeweils eine Zeile des Gedichts enthalten. Auf diese Weise liegen die jeweils ersten, zweiten, dritten usw. bis zur vierzehnten Zeile jeder Seite übereinander, können einzeln umgeblättert werden und sind somit untereinander austauschbar. Die Endungen der jeweiligen Zeilen auf derselben Ebene folgen den Erfordernissen des Sprachrhythmus und des Reims. So ist es gleichgültig, von welcher der zehn Seiten man eine Zeile liest – jeder Vers fügt sich nahtlos mit jeder anderen der nachfolgenden Zeilen beliebiger Seiten zusammen, sodass stets ein verständlicher Duktus resultiert. Dies eröffnet die unheimlich große Zahl von 10¹⁴ möglichen Kombinationen bzw. verfügbaren Sonetten. Wenn man alle Variationen ununterbrochen nacheinander liest und sich nur kurze Ruhepausen gönnt, würde das Lesevergnügen – bei 30 Sekunden pro Gedicht – rund 95 Millionen Jahre dauern.

 

Ein weiteres, außerordentlich erfolgreiches Werk Queneaus sind seine 1947 erschienenen Exercises de Style (dt. Stilübungen), eine Sammlung von rund hundert Varianten derselben Geschichte, jede in einem anderen Format, Stil und Tonfall. Dabei geht es um eine vom Ich-Erzähler beschriebene belanglose Szene in einem Pariser Autobus. Dort ergibt sich ein ebenfalls belangloser Dialog mit einem seltsam angezogenen Passagier, dem der Ich-Erzähler später am Gare Saint-Lazare wiederbegegnet. Dabei fallen ihm gewisse Unregelmäßigkeiten in der Kleidung dieser Person auf. Das ist alles – und erstreckt sich auf weniger als eine halbe Buchseite. Im Anschluss folgen dann 99 teils völlig absurde Verdrehungen der Geschichte, was den amüsanten Effekt der ganzen Lektüre ausmacht. Was auch immer dem Text angetan wird – man kann stets den Bezug zur banalen Ausgangsgeschichte erkennen und sich über deren teils akrobatische Verformungen erfreuen.

 

Zum Abschluss möchte ich noch eine Ergänzung in eigener Sache anbringen. Queneaus Stilübungen haben mich vor einigen Jahren inspiriert, ein ähnliches, wenngleich nicht ganz so virtuoses Werk zu verfassen. Es handelt sich um das Rezept für eine kalte bulgarische Gurkensuppe, das aus wenigen Ingredienzien zusammengestellt wird und insbesondere an heißen Sommertagen eine köstliche Erfrischung darstellt. Analog zu Queneau habe ich den wenige Zeilen umfassenden Text mannigfach inhaltlich und stilistisch variiert – beispielsweise so, wie er von einem Musiker, Ingenieur, Nationalisten, Esoteriker, Sado-Masochisten usw. verfasst würde – selbstverständlich stets auf humorvolle Weise. Insgesamt sind so über 150 Varianten entstanden, die – wenn alles gut geht – noch dieses Jahr in Buchform unter dem Titel „Tarator – 158 Variationen einer kalten Gurkensuppe“ im KaMeRu Verlag erscheinen wird.

 

Interessierte Leser, die des Französischen nicht mächtig sind, finden brauchbare Übersetzungen von Queneaus Werken auch auf Englisch und Deutsch. Eine einfache Suche mit Google hilft da weiter.


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