CH: Der Bundesrat anerkennt Verbrechen gegen die Menschlichkeit an Jenischen und Sinti und bekräftigt Entschuldigung

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Der Bundesrat hat am 19. Februar 2025 das Rechtsgutachten des Eidgenössischen Departements des Innern (EDI) zur Verfolgung der Jenischen und Sinti zur Kenntnis genommen. Dabei wurde offiziell anerkannt, dass die im Rahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» begangene Verfolgung dieser Gemeinschaften nach den heutigen Maßstäben des Völkerrechts als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» zu werten ist. Der Bundesrat bekräftigte seine Entschuldigung von 2013 gegenüber den Betroffenen und erklärte, dass das EDI mit diesen in den kommenden Monaten weiterhin klären werde, ob zusätzliche Maßnahmen zur Aufarbeitung der Vergangenheit erforderlich sind.

 

Systematische Verfolgung und Zwangsmaßnahmen

Von 1926 bis 1973 wurden in der Schweiz rund 600 Jenische Kinder im Rahmen des «Hilfswerks für die Kinder der Landstrasse» von ihren Eltern weggenommen. Diese Maßnahme, die in enger Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden und der Stiftung Pro Juventute durchgeführt wurde, zielt darauf ab, die fahrende Lebensweise der Jenischen und Sinti zu unterdrücken und diese Gemeinschaften zu assimilieren. Neben den Zwangswegnahmen von Kindern betrafen die Maßnahmen auch Zwangssterilisationen, Vormundschaften und Eheverbote für betroffene Erwachsene. Auch viele Sinti wurden Opfer dieser systematischen Verfolgung.

 

Kritik und Aufarbeitung

In den 1970er Jahren begann die Öffentlichkeit, diese Praxis zu hinterfragen. In den Jahren 1988 und 1992 stellte das Parlament auf Antrag des Bundesrats insgesamt 11 Millionen Franken für einen Fonds zur Wiedergutmachung bereit. 2013 sprach der Bundesrat dann eine Entschuldigung aus und initiierte verschiedene Maßnahmen zur Entschädigung und Aufarbeitung des begangenen Unrechts. Trotz dieser Schritte blieb die Forderung nach einer vollständigen juristischen Aufarbeitung bestehen.

 

Rechtsgutachten und Anerkennung von Verbrechen gegen die Menschlichkeit

Im November 2021 ersuchte die «Union des Associations et des Représentants des Nomades Suisses» (UARNS) den Bund, den Vorwurf eines Völkermordes (Genozids) anzuerkennen. In Antwort darauf beauftragte das EDI den Völkerrechtsexperten Prof. Dr. Oliver Diggelmann, ein Gutachten zur völkerrechtlichen Verantwortung der Schweiz zu erstellen. Das Gutachten stellte fest, dass die durch das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» durchgeführten Maßnahmen nach den geltenden völkerrechtlichen Standards als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» gelten. Der Gutachter betonte jedoch, dass kein Genozid vorliege, da keine «genozidäre Absicht» zur Vernichtung der Jenischen und Sinti erkennbar war.

 

Betroffene fordern weitere Aufarbeitung

Der Bundesrat bekräftigte seine Entschuldigung und gab bekannt, dass er weiterhin mit den betroffenen Gemeinschaften in Dialog bleiben wird, um festzustellen, ob weitere Maßnahmen zur Aufarbeitung der Vergangenheit notwendig sind. Dies erfolgt im Rahmen einer umfassenden historischen und rechtlichen Aufarbeitung, die bereits in den 1980er Jahren mit der Veröffentlichung des Berichts «Fahrendes Volk in der Schweiz» sowie weiteren historischen Studien begann.

 

Schritte zur Wiedergutmachung

Die Schweiz hat über die Jahre verschiedene Maßnahmen zur Wiedergutmachung der betroffenen Personen ergriffen, darunter finanzielle Entschädigungen und die gesetzliche Rehabilitierung der Opfer. So wurde 2014 das Bundesgesetz über die Rehabilitierung administrativ versorgter Menschen eingeführt, das auch die Jenischen und Sinti umfasst. Zusätzlich trat 2017 ein weiteres Gesetz zur umfassenden Aufarbeitung der Fürsorgerischen Zwangsmaßnahmen und Fremdplatzierungen in Kraft.

 

Mit diesen Maßnahmen wird ein weiterführender Prozess der Wiedergutmachung und des Dialogs fortgesetzt, um das begangene Unrecht vollständig zu erkennen und die Bedürfnisse der Betroffenen zu berücksichtigen.

 

Fazit

Die Anerkennung des Verbrechens gegen die Menschlichkeit durch den Bundesrat stellt einen bedeutenden Schritt in der Aufarbeitung der Schweizer Geschichte dar. Während das Gutachten die Verantwortung des Staates für das Unrecht bestätigt, bleibt die Arbeit zur Wiedergutmachung und Erinnerung an diese dunkle Epoche ein fortlaufender Prozess. Der Bundesrat hat sich verpflichtet, mit den betroffenen Gemeinschaften weitere Lösungen zu finden, um den Schmerz und die Entbehrungen der Vergangenheit nicht zu vergessen und zu heilen.

 

 

 

Herausgeber

Der Bundesrat

https://www.admin.ch/gov/de/start.html

Bundesamt für Kultur

http://www.bak.admin.ch


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