DMZ – POLITIK ¦ MM ¦ Lena Wallner ¦
Wien – Bei der Verleihung des Simon-Wiesenthal-Preises 2023 gestern Abend im Parlament haben Expertinnen UND Experten die Notwendigkeit unterstrichen, gegen den stark steigenden Antisemitismus in Europa vorzugehen. Wenn man jetzt nichts unternehme und nicht seine Stimme erhebe, sei es fraglich, ob es in zehn Jahren überhaupt noch jüdisches Leben in Europa geben werde, warnten sowohl die Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission und Jury-Vorsitzende Katharina von Schnurbein als auch der deutsch-arabisch-israelische Psychologe Ahmad Mansour. Man müsse Antisemitismus abbauen, bevor er die Demokratie zerstöre, betonte Mansour.
Laut Dalia Grinfeld von der Anti-Defamation-League sind beispielsweise die antisemitischen Vorfälle in Frankreich seit dem 7. Oktober, dem Tag des Terrorangriffs der Hamas auf Jüdinnen und Juden in Israel, um 1.000 Prozent gestiegen. Das Leben von Jüdinnen und Juden in Europa habe sich seit diesem Tag komplett verändert, berichtete sie. Es herrsche verbreitet Angst vor, offen jüdisch zu leben.
Für die Entwicklung mitverantwortlich machten Mansour, Grinfeld und Schnurbein die Sozialen Medien, wobei sich Schnurbein zuversichtlich zeigte, dass der Digital Service Act der EU die großen Plattformen dazu bewegen wird, mehr gegen Antisemitismus und Hass im Netz zu tun. Ein kleiner Lichtblick ist für DÖW-Leiter Andreas Kranebitter, dass die Arbeit mit Jugendlichen seiner Erfahrung nach gut funktioniert, man müsse aber mehr Präventionsarbeit leisten.
Den Hauptpreis des Simon-Wiesenthal-Preises 2023 hat das Dialogprojekt "Likrat" erhalten. Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka und Juryvorsitzende Schnurbein überreichten die mit einem Scheck von 15.000 € verbundene Auszeichnung gestern Abend an den österreichischen Ableger "Likrat – Lass uns reden!" und an das Schweizer Original. "Likrat" – ein poetischer hebräischer Ausdruck für "entgegen(gehen)" – bringt jüdische und nichtjüdische Jugendliche zusammen, mit dem Ziel antisemitische und antijüdische Stereotype aufzulösen und ein pluralistisches Bewusstsein zu generieren. Weitere Preisträger:innen sind die Asociacón Cultural Mota de Judíos in Spanien und die österreichische Organisation Centropa. Außerdem wurden zahlreiche Zeitzeug:innen geehrt.
Sobotka: Zur Bekämpfung des Antisemitismus kann man nie genug tun
Auch Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka ging in seinen Eröffnungsworten auf die "barbarische Terrorattacke" der Hamas am 7. Oktober ein. Diese habe sich in die von Simon Wiesenthal erstellte Chronik der abscheulichsten Verbrechen an Jüdinnen und Juden seit der Shoah hineingeschrieben, betonte er. Seither vergehe kaum ein Tag, wo es nicht irgendwo in der Welt zu Hetze, Übergriffen und Angriffen auf Jüdinnen und Juden, auch wieder zu Morden, komme. Die vielköpfige Hydra des Antisemitismus zeige erneut ihre hässliche Fratze.
Dem Judenhass, der von rechts und von links ebenso komme wie von migrantischer Seite, müsse man sich entschieden entgegenstellen, bekräftigte Sobotka. Dort wo es möglich sei, mit Erziehung und mit Verständigung, wo nötig aber auch "mit der Klarheit des Gesetzes und mit dem Gewaltmonopol des Staates". Zur Bekämpfung des Antisemitismus könne man nie genug tun, so der Nationalratspräsident.
Sobotka begrüßt in diesem Sinn, dass sich zahlreiche Organisationen, zivilgesellschaftliche Gruppen und engagierte Einzelpersonen aktiv für Toleranz, Respekt und Gerechtigkeit einsetzen. Durch Aufklärung und Sensibilisierung könnten Vorurteile abgebaut und das Verständnis für die verschiedenen Kulturen und Religionen vertieft werden, hält er im Vorwort der Begleitbroschüre zur Preisverleihung fest. Insgesamt hat es für den Simon-Wiesenthal-Preis 2023 ihm zufolge 197 Einreichungen mit Beteiligungen aus 31 Ländern gegeben. Der jüngste Einreicher war 17 Jahre, die älteste Einreichende 103 Jahre alt.
Wiesenthals Familie wurde bei der Preisverleihung von dessen Enkelin Racheli Kreisberg vertreten. Sie erinnerte nicht nur an das unermüdliche Bemühen Wiesenthals, NS-Kriegsverbrecher vor Gericht zu bringen, sondern stellte auch die von ihr gegründete SWIGGI-Gedenkinitiative vor. Auf einer Landkarte werden mit dem "SWIGGI-Tool" frühere Adressen von Jüdinnen und Juden in mehreren Städten wie Wien angezeigt, wobei man per Klick in die Lebensgeschichten der einzelnen Personen eintauchen und teilweise Stammbäume bis heute verfolgen kann. Auch Touren vor Ort werden angeboten.
Auszeichnung für Dialogprojekt "Likrat"
Den Hauptpreis des Simon-Wiesenthal-Preises, der für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus und für Aufklärung über den Holocaust verliehen wurde, nahmen die Programmverantwortliche von Likrat Österreich Beatrice Kricheli, Kultusrätin der IKG Wien, sowie der Generalsekretär des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes Jonathan Kreutner für Likrat Schweiz entgegen. Es handle sich um ein sehr erfolgreiches Projekt, würdigte Jury-Vorsitzende Katharina von Schnurbein die Initiative. Würde es diese Organisation nicht geben, müsste man sie erfinden, meinte sie. Derzeit gebe es gar nicht genug Likratinos und Likratinas, um der gestiegenen Nachfrage nachzukommen.
Auch in der Schweiz sei der Antisemitismus nach dem 7. Oktober massiv gestiegen, berichtete Kreutner in seiner Dankesrede. Vor kurzem habe es sogar einen Mordversuch an einem Juden gegeben, nur weil er ein Jude sei, erstmals seit Ende des Zweiten Weltkriegs in der Schweiz. Das zeigt Kreutner zufolge, wie wichtig ein Antisemitismusprojekt wie Likrat ist. Kricheli schilderte, dass die Situation in den Schulen nach dem 7. Oktober deutlich schwieriger geworden sei. Gerade jetzt hält sie es aber für notwendig, das Dialogprojekt, das es inzwischen auch in anderen Ländern wie Deutschland und Moldawien gibt, fortzusetzen.
Die weiteren Preisträger
Für zivilgesellschaftliches Engagement gegen Antisemitismus wurde außerdem die Asociacón Cultural Mota de Judíos in Spanien ausgezeichnet. Das kleine spanische Dorf Castrillo Matajudios – was in etwa als "Festung, die Juden tötet" übersetzt werden kann – hat seinen Namen 2015 nach einem Referendum und der Zustimmung der Regionalregierung offiziell wieder in den vor 1632 benutzten Namen Castrillo Mota de Judíos (Festung Hügel der Juden) geändert. Es hat sich auch nicht von antisemitischen Attacken davon abhalten lassen, die Vergangenheit aus der Versenkung zu holen und das jüdische Erbe wieder sichtbar zu machen, wie der Bürgermeister des Ortes, Lorenzo Rodríguez Pérez, bei der Preisübergabe durch Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka schilderte.
Der an die lokale Kulturvereinigung überreichte Preis ist ebenso mit 7.500 € dotiert wie der Preis für zivilgesellschaftliches Engagement für Aufklärung über den Holocaust, der an "Centropa" ging. Die in Österreich beheimatete Organisation dokumentiert die Erinnerung von Zeitzeug:innen an den Holocaust sowie an jüdische Lebenswelten vor dem Zweiten Weltkrieg und wurde für ihre Anstrengungen geehrt, die Holocaust-Erziehung in der Ukraine auch in Zeiten des russischen Angriffskrieges fortzusetzen. Er habe die Lebensgeschichten der ältesten noch lebenden Juden in Zentral- und Osteuropa aufzeichnen wollen, und zwar nicht nur ihr Leben in der NS-Zeit, sondern auch vor und nach dem Holocaust, erinnerte Centropa-Direktor Edward Serrota an die Anfänge des Projekts im Jahr 2000. Mittlerweile würden nicht nur tausende Seiten an Erzählungen, sondern auch tausende digitalisierte Bilder vorliegen.
Ehrung von zehn Zeitzeuginnen
Im Anschluss an die Preisverleihung fand eine Ehrung von Zeitzeug:innen statt. Die Shoah-Überlebenden Helga Feldner-Busztin (Österreich), Jeno Friedmann (USA), Octavian Fülöp (Rumänien), Naftali Fürst (Israel), Maria Gabrielsen (Norwegen), Viktor Klein (Österreich), Otto Nagler (Israel), Katharina Sasso (Österreich), Liese Scheiderbauer (Österreich) und Marian Turski (Polen) wurden für ihre Bereitschaft gewürdigt, regelmäßig in der Öffentlichkeit über ihre eigenen Erfahrungen zu berichten und damit einen wichtigen Beitrag zur Bewusstseinsbildung und zur Antisemitismus-Prävention zu leisten. Die Zeitzeug:innen hätten mit ihren Erinnerungen die Saat für das Engagement der jungen Menschen von heute gesät, hob die Generalsekretärin des Nationalfonds Hannah Lessing hervor. Sechs der Geehrten waren bei der Urkundenüberreichung persönlich anwesend.
Stark steigender Antisemitismus
In einer von ORF-Journalistin Lisa Gadenstätter geleiteten Podiumsdiskussion schilderte Dalia Grinfeld von der Anti-Defamation League, dass sich die Lebenswelt von Jüdinnen und Juden in Europa nach dem 7. Oktober komplett verändert habe. Die antisemitischen Vorfälle in Frankreich seien zuletzt um 1.000 Prozent gestiegen, auch in anderen Ländern habe es einen massiven Anstieg gegeben. Jüdische Studierende hätten Angst auf die Uni zu gehen und stellten sich die Frage, inwieweit sie überhaupt noch offen jüdisch leben könnten. Die Jüdinnen und Juden seien nach der Terrorattacke alleine gelassen worden, kritisierte Grinfeld, auch Frauenorganisationen wie UN Women oder LGBTQI-Initiativen hätten geschwiegen oder sich sogar aktiv gegen Israel gestellt.
Über die Reaktionen auf den Terrorangriff der Hamas schockiert zeigte sich auch der deutsch-arabisch-israelische Psychologe und Autor Ahmad Mansour. Er verstehe Menschen, die mit unschuldigen Opfern im Gazastreifen empathisch seien, sagte er, bei der Attacke der Hamas am 7. Oktober habe es sich aber um das größte Pogrom an Juden seit dem Zweiten Weltkrieg gehandelt. Es sei um die systematische Ermordung von Juden und Jüdinnen gegangen, nur weil sie Juden und Jüdinnen sind.
Dass dieses "Abschlachten von Menschen" nicht abgeschreckt, sondern vielmehr zu einem Zusammenschluss von "linksradikalem Antisemitismus" und migrantischen Communitys geführt habe, hält Mansour für alarmierend. Wenn man jetzt nicht die Stimme erhebe, sei fraglich, ob es in zehn Jahren noch jüdisches Leben in Europa geben werde, warnte er. Man müsse Antisemitismus abbauen, bevor er die Demokratie zerstöre.
Soziale Medien als Gefahr für die Demokratie
Sowohl Mansour als auch die Juryvorsitzende Katharina von Schnurbein, Antisemitismusbeauftragte der EU-Kommission, sehen dabei die Notwendigkeit, auch bei den Sozialen Medien anzusetzen. Es sei an der Zeit, diese in den Griff zu bekommen und eine Demokratieoffensive zu starten, sagte Mansour. Schnurbein betonte, dass die Sprache im Netz viel aggressiver und "schamloser" sei, dass schlage sich "auf der Straße" nieder. "Wenn wir das Internet nicht unter Kontrolle bekommen, bedeutet das eine echte Gefahr für die Demokratie", mahnte sie.
Schnurbein sieht insbesondere die großen Plattformen in der Verantwortung. Diese müssten Hassreden entfernen. Das habe absolute Priorität, gegen Twitter (X) laufe bereits eine erste Klage. Schnurbein glaubt, dass der Digital Service Act (DSA) der EU dabei durchaus "Biss" hat, drohten den Plattformen doch Strafen von bis zu 6 % des jährlichen Umsatzes, wenn es zu keinen Änderungen komme.
Andreas Kranebitter, Leiter des Dokumentationsarchivs des Österreichischen Widerstandes (DÖW), wies darauf hin, dass antisemitische Vorfälle auch in Österreich rasant gestiegen seien. Das, was seit dem 7. Oktober beobachtet werden könne, sei ein Flächenbrand, sagte er. Notwendig ist für ihn verstärkte Prävention, es brauche "Brandschutz und nicht nur Feuerwehrarbeit". Wobei die Arbeit mit den Jugendlichen seinen Erfahrungen nach "gut funktioniert": Man könne "eine vorsichtig optimistische Lanze" für die Jugend brechen, meinte er. Wichtig sei, mit den jeweils eigenen Vorurteilen zu beginnen, um die Jugend zu erreichen.
Herausgeber / Quelle: Parlamentskorrespondenz Österreich ¦
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