· 

Aufruf zu einem überfälligen Paradigmenwechsel

DMZ – MEDIZIN / WISSEN ¦ Dr. med. Maja Strasser  

 

ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Erschöpfungssyndrom) ist gleich häufig wie Multiple Sklerose. Falls Sie noch nie bewusst einen ME/CFS-Betroffenen gesehen haben, sind Sie in guter Gesellschaft: Postvirale Erschöpfungssyndrome sind nämlich Stiefkinder der Medizin.

 

Viele erhalten nie eine korrekte Diagnose, es gibt außer Physiotherapie keine Behandlung sowie kaum Forschung oder finanzielle Unterstützung: Obwohl 40% vollständig und 20% teilweise arbeitsunfähig sind, werden dreiviertel der IV-Anträge abgelehnt.

 

Durch die Pandemie gibt es in der Schweiz circa 300 000 Long-Covid-Betroffene, ein beträchtlicher Teil davon entwickelt ME/CFS. Die Standarddiagnostik ist meist unauffällig. So konnte bei Long-Covid-Patientinnen und Patienten mit Dyspnoe erst mit 129Xe-MRT ein gestörter pulmonaler Gasaustausch nachgewiesen werden. Entsprechend sind die häufigsten Fehldiagnosen Depressionen, eine psychosomatische Ursache oder bei Kindern Münchhausen by proxy.

 

Zentral ist ein Cluster aus Fatigue, Belastungsintoleranz, Post-Exertional Malaise, orthostatischer Intoleranz und kognitiver Dysfunktion. Die Frage nach der Post-Exertional Malaise und deren Auswirkungen im Alltag gehört imperativ zur Anamnese, denn sie manifestiert sich erst nach der Untersuchung oder Begutachtung. In der Untersuchung werden die Patientinnen und Patienten oft enorm überschätzt.

 

Grundversorgende müssten mit postviralen Syndromen umgehen wie mit Migräne oder Pneumonie und die unkomplizierten Fälle selber kompetent abklären und therapieren: Differenzialdiagnosen ausschließen, ein posturales orthostatisches Tachykardiesyndrom oder eine orthostatische Hypotonie proaktiv suchen und behandeln, Physiotherapie und Ergotherapie für Pacing verordnen (Training unterhalb der individuellen Belastungsschwelle, um eine Post-Exertional Malaise zu vermeiden), Antihistaminika und Ernährungsberatung zur Behandlung des Mastzellenaktivierungssyndroms sowie Nahrungsergänzungsmittel einsetzen.

 

Postvirale Syndrome müssen in Aus-, Fort- und Weiterbildung und Forschung als häufige Multisystemerkrankung eine hohe Priorität erhalten, damit die vielen Betroffenen evidenzbasiert abgeklärt, therapiert und angemessen unterstützt werden.

 

 

Originalartikel: Schweizerische Ärztezeitung - Aufruf zu einem überfälligen Paradigmenwechsel (saez.ch)

Ausflugstipps

In unregelmässigen Abständen präsentieren die Macherinnen und Macher der DMZ ihre ganz persönlichen Auflugsstipps. 

Unterstützung

Damit wir unabhängig bleiben, Partei für Vergessene ergreifen und für soziale Gerechtigkeit kämpfen können, brauchen wir Sie.

Rezepte

Wir präsentieren wichtige Tipps und tolle Rezepte. Lassen Sie sich von unseren leckeren Rezepten zum Nachkochen inspirieren.

Persönlich - Interviews

"Persönlich - die anderen Fragen" so heisst die Rubrik mit den spannendsten Interviews mit Künstlerinnen und Künstlern.

Kommentar schreiben

Kommentare: 0